Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
militante Zufriedenheit fungierten.
Feddersen/Lang: Worin besteht die?
Sloterdijk: Das Bürgertum ist die Klasse, die aus ihrer Zufriedenheit selbst einen Trotz macht. Wie kann man das erklären? Die moderne Gesellschaft popularisiert die Möglichkeiten des Vergleichs. Deswegen gibt es ein asymmetrisches Wachstum zwischen den Gründen, zufrieden zu sein, und den Gründen, unzufrieden zu sein. Sobald die Befriedigungsmittel weiter gestreut sind, wachsen auch die Vergleichsmittel. Jeder vergleicht sich mit jedem, mit dem Ergebnis, daß man ringsum Leute sieht, die zu Unrecht vor dir liegen. Auf diese Weise werden zahllose Leute, die objektiv gesehen Modernisierungs- und Fortschrittsgewinner sind, subjektiv zu Protestierenden.
Feddersen/Lang: Deshalb leben wir in einer deutschen Welt. Luxusunzufriedenheit führt zu Abstiegsängsten?
Sloterdijk: Diese Frage bringt die Paradoxie dieser vergeudeten Unzufriedenheit sehr schön auf den Begriff. Luxusunzufriedenheit deutet darauf hin, daß Menschen kein Organ haben, um Wahrscheinlichkeiten abzuschätzen. Wir sind einerseits orientiert an Tatsachen, andererseits an Hoffnungen und Erwartungen. Aber ein Organ für das Wahrscheinliche gibt es nicht. Deswegen können wir die unvorstellbare Unwahrscheinlichkeit unserer eigenen Lebensform nicht evaluieren. Das könnten nur Leute, die von außen kommen, oder solche, die zwischen einer Armutskultur und einer Reichtumskultur pendeln.
Feddersen/Lang: Übertragen auf die Parteien, bedeutet dies, daß sie heute Anwälte des Unwahrscheinlichen sind?
Sloterdijk: Ich sehe sie als Dienstleister auf dem politischen Illusionenmarkt. Ihr Pakt mit der Unwahrscheinlichkeit ist schicksalhaft und zwanghaft. Gewählt wird ja, wer den Wählererwartungen am meisten entgegenkommt. Aber alle Erwartungen dieser Art laufen auf steigende Unwahrscheinlichkeit hinaus. Das Generalprodukt, das die Parteien heute ausnahmslos anbieten müssen, ist der plausible Schein, daß durch die Politik dieser Partei die Lebensformen ihrer Klientel optimiert werden.
Feddersen/Lang: Die meisten Politiker signalisieren doch gar keine Optimierung mehr, sondern versprechen den Status quo. Und dies sehr alarmistisch.
Sloterdijk: In einem ausgeleerten Liberalismus gilt auch die Garantie des Status quo sehr viel. Wo die meisten Ideologen längst wieder mit Verschlechterungsdrohungen arbeiten, sind Bestandsgarantien schon nahezu Evangelien. Man muß sich klarmachen, daß auf der politischen Bühne schon immer die Drohkräfte mit den versprechenden Kräften gerungen haben. Gegenwärtig sind die Drohkräfte obenauf, deswegen werden die suggestivsten Drohthemen, internationale Konkurrenz und Terrorismus, bei uns so stark besetzt. Eigentlich würden die Menschen lieber schöne Versprechen hören, inzwischen sind sie schon froh, wenn man ihnen nicht allzu offen droht. Und dieselben Leute haben vor kurzem noch offensive Forderungen gestellt!
Feddersen/Lang: Der Mythos vom Generalstreik kann also gar nicht mehr tragen?
Sloterdijk: In Deutschland noch weniger als in anderen Ländern. Die Linke war mächtig, solange sie selber glaubhaft drohen konnte. Damals, als der Kommunismus wie die real existierende Alternative auftrat, mußten die westlichen Arbeitnehmerparteien nicht sehr viel tun, um der Arbeitgeberseite klarzumachen, daß der soziale Frieden auch bei uns seinen Preis hat. Vergangene Zeiten. Die Linke ist jetzt bedroht, nicht drohend. Bei den Strategen definiert man die Drohung als bewaffneten Ratschlag. Links ist man heute entwaffnet und ratlos.
Feddersen/Lang: Wenn die Linke also ein Blatt ohne Trümpfe auf der Hand hat – dann ist sie doch überflüssig?
Sloterdijk: Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ist in der westlichen Welt die gesamte Politik in die Mitte implodiert. Gleichzeitig implodierte im Osten der kommunistische Apparat. Das Ressentiment wird seither immer diffuser. Das ist das Merkmal der postkommunistischen Lage: Die Linke hat aufgehört, als Zornsammelstelle zu funktionieren. Womit soll sie jetzt noch werben? Ich denke, sie muß ihren Fokus verschieben, weg von Rachefeldzügen, hin zu Zivilisationskampagnen. Vom Kämpfen zum Lernen.
Feddersen/Lang: Bei »Rachefeldzüge« fällt uns sofort einiges ein – aber wie sollten linke Zivilisationsprojekte aussehen?
Sloterdijk: Man könnte sich zum Beispiel einschalten in die Differenzen der Religionen. Warum ist der Islam in der postkommunistischen Situation so in den Vordergrund gekommen? Weil seine
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