Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
gegenseitig stimulieren und bereichern.
Feddersen/Lang: Sie glauben also, daß geldwerter Wohlstand nicht zu sozialem Frieden führt?
Sloterdijk: Er befriedet nur die, die ihn haben. Der Kapitalismus geht von der Prämisse aus, daß Friede auf der Erde entsteht, wenn alle Menschen in Konsumenten umgewandelt sind. Das ist bestenfalls eine gefährliche Halbwahrheit. Zum Zivilisierungsprojekt gehört, daß man Menschen nicht nur als Geschöpfe am Futtertrog sieht, sondern als Wesen mit Würdeverlangen.
Feddersen/Lang: Womit gerade Religionen wieder zum Zuge kämen?
Sloterdijk: Die Religionen sind bis auf weiteres eher Teil des Problems als der Lösung. Gäbe es den Weltgeist, würdeer jetzt wohl statuieren: Der zivilisatorische Weg ist allein noch offen. Tatsächlich stehen sich auf der großen Bühne zwei Komplexe gegenüber, die in sich total unausbalanciert sind: ein übererotisierter, von der Gier verwüsteter Westen, andererseits ein überthymotisierter, vom Ressentiment verwüsteter Naher und Mittlerer Osten. Ohne Rebalancierung ist nach beiden Seiten die globale Selbstzerstörung programmiert.
Feddersen/Lang: Wirklich besorgt klingen Sie aber nicht. Sie sind da guter Hoffnung?
Sloterdijk: Eigentlich ja. Meine Hoffnung ist allerdings auf dem zweiten Bildungsweg erlernt, gegen meine anfängliche Stimmung. Doch wenn man ziemlich viel Glück hatte, kann man nicht auf pessimistischen Positionen herumreiten. Es gibt aber auch intellektuelle Gründe für gemäßigten Optimismus.
Feddersen/Lang: Was veranlaßt Sie dazu?
Sloterdijk: Man kann gewisse Denkfiguren Herders, Hegels und Whiteheads so umformulieren, daß ein belastbarer Prozeßoptimismus entsteht. In einer dichten Welt – und Dichte ist das Hauptmerkmal unserer Weltform – steigt die autodidaktische Spannung. Man erlebt, wie uns die Nebenwirkungen des Handelns immer rascher einholen. Wo Fatum war, wird Feedback werden. Die Menschheit ist eine verdammte Selbsterfahrungsgruppe, deren Teilnehmer sich gegenseitig so sehr unter Druck setzen, daß sie wohl noch im laufenden Jahrhundert einen halbwegs lebbaren Kodex erarbeiten könnten.
Feddersen/Lang: Was in Ihrer Lesart das Gegenteil von einem Warten auf einen neuen Revolutionsführer wäre?
Sloterdijk: Revolution und Führer sind kompromittierte Konzepte. Bei dem Prozeßmodell, das mir vorschwebt, hat man es eher mit einer Neuauflage des von Adam Smith eingeführten Arguments der unsichtbaren Hand zu tun. Scheinbar sehr naiv, bietet es in Wahrheit einen komplexen Gedanken im Vorfeld der Kybernetik und der Chaostheorie. Wenn man Chaostheoretiker und Kybernetiker auf die soziale Evolution ansetzt, werden sie nach Durchrechnung aller erreichbaren Variablen zu dem Schluß kommen, daß man unter allen Umständen etwas Besseres als den Super- GAU erwarten darf. Optimismus als Minimalismus. Mit dieser Auskunft kann man weiterarbeiten.
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[ 24 ] Dieses Gespräch zwischen Peter Sloterdijk, Jan Feddersen und Susanne Lang erschien unter dem Titel »Väter weg von Puff und Kneipe« in der taz (23. Dezember 2006).
Jan Feddersen ist Journalist und Redakteur bei der Berliner Tageszeitung taz.
Susanne Lang ist Redakteurin der Tageszeitung taz .
Die Athletik des Sterbens
Im Gespräch mit René Scheu [ 25 ]
Scheu: Herr Sloterdijk, haben Sie Angst vor dem Tod?
Sloterdijk: Ja, habe ich, und zwar deshalb, weil ich ihm ganz früh schon nahe war, gewissermaßen von ihm herkomme. Hätte ich keine Ahnung davon, verhielte ich mich vielleicht wie der französische Hauptmann La Palisse, den Albert Camus in Der Mythos von Sisyphos erwähnt. Dieser Führer war für seine Furchtlosigkeit, genauer für seine Gedankenlosigkeit bekannt. In einem Lied, das die Soldaten zu seinen Ehren dichteten, heißt es entsprechend: »Ein Viertelstund vor seinem Tod / Da war er noch am Leben«. In philosophischer Sicht bringt das eine interessante Position zum Ausdruck: Es gibt Leben, in das der Tod keine Schatten vorauswirft.
Scheu: Ein besinnungsloses Leben? Das ist nicht gerade, was die Philosophen gemeinhin schätzen.
Sloterdijk: Vielleicht haben die modernen Philosophen – wie sie eben sind, fixiert auf die Existenz und ihre Endlichkeit – etwas Mühe, das Leben mit einer rein expansiven Dynamik zu denken. Aber wenn ihnen diese Fähigkeit abgeht, heißt dies noch lange nicht, daß eine solche Lebensform nicht existiert – ein Leben ohne Stauung, ohne Reflexion, ohne übertriebene Selbstbezogenheit, und vor allem: ohne das Engramm
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