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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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    Feddersen/Lang: Herr Sloterdijk, was hat in diesem Jahr Ihren Zorn geweckt?
    Sloterdijk: Ich weiß nicht recht, ich bin nicht leicht zu provozieren. Am ehesten denke ich, es waren die Studentenproteste in Frankreich gegen die Einführung des neuen Erstbeschäftigungsvertrags. Sein Zweck bestand darin, den Arbeitgebern Spielräume einzuräumen, um ihnen die Hemmungen vor der Einstellung neuer Mitarbeiter zu nehmen. Absurderweise wurde das von den Betroffenen als Angriff auf ein vermeintliches Grundrecht auf Lebenszeitbeschäftigung vom ersten Arbeitstag an gewertet. Ihr Widerstand war völlig illusorisch, als wollte man Spitzenjobs für alle fordern.
    Feddersen/Lang: Idealismus zeichnet eine Studentenbewegung doch aus?
    Sloterdijk: Man sollte Illusionismus und Idealismus unterscheiden. Die Haltung der Jüngeren hat sich verändert. Ich selber komme aus einer Generation, die unter ganz anderen Vorzeichen angetreten war: Als ich 1966 Abitur machte, wollte man überhaupt nie einen Kompromiß mit der Welt der Festanstellungen eingehen. Unser Motto lautete: »Meine Arbeitskraft kriegt ihr nie.«
    Feddersen/Lang: Aber das galt doch nur für die linken Kader, nicht für ihre Schutzbefohlenen, die Arbeiter.
    Sloterdijk: Es stimmt, daß in den frühen 70ern, zur Zeit der sogenannten Vollbeschäftigung, eine studentische Boheme entstehen konnte. Diese 68er-Boheme hat einen politischen Überschuß erzeugt, der phantastische Öffnungen bewirkte. Von denen leben wir bis heute. Die Proteste in Frankreich haben dagegen eine geradezu überwältigende Verspießerung der Jugend sichtbar gemacht.
    Feddersen/Lang: Weil die Jugend arbeiten statt revolutionieren will?
    Sloterdijk: Weil sie ihre Wünsche von der Logik der Konsumwelt strukturieren läßt. In früheren Lebensläufen spielte Jugend die Rolle eines psychosozialen Moratoriums, in dem der Mensch im Zustand der Unentschiedenheit, sogar der Desorientierung geduldet und geschützt blieb. Die Voraussetzung war ja immer, daß dies im Dienst einer späteren optimalen beruflichen Anwendung geschieht. Heute gehen 18jährige zu Hunderttausenden auf die Straße und klagen die Lebenszeitanstellung ein!
    Feddersen/Lang: In Frankreich gingen auch Jugendliche in den Banlieues auf die Straße und zündeten Autos an. Sind sie die eigentlich Zornigen dieser Gesellschaft?
    Sloterdijk: Nein, beide Proteste sind vor allem mimetische Bewegungen, die einen Zorn nachahmen, den die Akteure selbst gar nicht immer haben. Frankreich schöpft aus einer reichen Empörungsfolklore.
    Feddersen/Lang: Die beherrschen wir in Deutschland auch ganz gut, oder?
    Sloterdijk: Ja, aber sie ist schwächer ausgeprägt. In Frankreich herrscht eine viel immobilere Atmosphäre, und die hat eine Dialektik von Stillstand und Explosion zur Folge. Bei uns sind die Dinge mehr im Fluß, deswegen hat der Protest keine so breite Basis mehr wie in den 80ern.
    Feddersen/Lang: Als vor allem die Grünen sehr laut zu hören waren?
    Sloterdijk: Wer die Grünen verstehen will, muß wissen,daß Deutschland nach 1945 bei der Hervorbringung von Verliererverhaltensweisen Außerordentliches geleistet hat. Bei uns ist die thymotische Kultur, die über Selbstaffirmation und Stolz läuft, bis auf den Stumpf abgetragen worden. Der Rest an selbstaffirmativem Verhalten mußte sich seither über Moralismus ausdrücken. Da waren die Grünen federführend, sie waren teilweise richtige Jakobiner.
    Feddersen/Lang: Demnach gaben die Grünen als Partei eine gute Zornbank ab, wie Sie es in Ihrem neuen Essay Zorn und Zeit ausführen. Sind sie das noch?
    Sloterdijk: Die Funktion der Institution Partei, nicht nur der Grünen, hat sich heute grundsätzlich geändert. Historisch gesehen waren Parteien nie nur Organe für Interessenausdruck, sondern mehr noch Affektsammelstellen. Es war ihre Aufgabe, Hoffnungs-, Illusions-, Wunsch- und Zornsammlung zu betreiben. Aufgrund verschiedener Mischungen haben sie jeweils verschiedene Publikumssegmente angesprochen: Diejenigen, die ihre Satisfaktion über nationale Symbole gesucht haben, artikulierten sich am rechten Flügel. Die anderen, die sich mit Symbolen des materiellen Fortschritts, des Ausbaus der Gerechtigkeit und des Sozialstaates identifizieren konnten, sammelten sich am linken Flügel. Bei den Liberalen schließlich haben sich die getroffen, die sich vom Fortschritt der Freiheiten im modernen Staat das meiste versprachen. Interessant ist jedenfalls, daß die bürgerlichen Parteien als Sammelstellen für

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