Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
französischen Psychoanalyse hinterlassen. Bis heute berauscht man sich dort an der Mehrdeutigkeit des Begriffs »désir«. Dieser bezeichnet verrückterweise zwei völlig verschiedene Dinge, zum einen, der freudschen Libido gemäß, das erotische Begehren, zum anderen das von Hegel beschriebene Verlangen nach Anerkennung.
Strehle: Jetzt regen Sie am Schluß Ihres Buches psychologische Wundheilungssysteme an. In welche Richtung sollen die gehen?
Sloterdijk: Die moderne Zivilisation hat auf diesem Feld ja schon einiges geleistet. Die Möglichkeit einer über das Geld gesteuerten Meritokratie, wie sie durch die Marktwirtschaft ermöglicht wurde, hat viel zur Entgiftung der sozialen Beziehungen beigetragen. Wenn einer was leistet, kriegen die anderen das mit, vorausgesetzt, die Leistungen können sichtbar erscheinen. Schon die Griechen haben vier ehrgeiztheatralische Erscheinungsstätten geschaffen, auf denen sich Begabte auszeichnen konnten: die Agora als Bühne der politischen Auseinandersetzung, das Theater, das Stadion und die Akademie, wo sich die wissenschaftlichen Meinungen stritten. In diesen Arenen blühten Menschen auf, die etwas konnten und wollten. Alle diese Foren sind heute wieder in voller Funktion. Wir machen uns keine Vorstellung mehr darüber, wie sehr die alten Adelsgesellschaften psychodynamisch verkorkst waren. Über Jahrhunderte hinweg bildeten damals absurde Vorrangkämpfe den Hauptinhalt der sozialen Existenz. Da wurde mit Stammbäumen gekämpft, da wurden Noblesse-Phantasmen gegeneinander ins Feld geführt, da wurden Vorrangstreitigkeiten in einem völlig leistungsfreien Raum ausgefochten – hohle Potenzträume ohne Anfang und Ende. Mit Unfug dieser Art haben die Europäer mehr als tausend Jahre verloren – das muß man endlich mal deutlich sagen.
Strehle: Sie gehen in Ihrem Buch einen Schritt weiter und schlagen eine Art Verhaltenskodex für die Weltgesellschaft vor.
Sloterdijk: Vorsicht. So weit würde ich niemals gehen. Ich sage, daß ein Verhaltenskodex für die Welt erst in den Mühlen der aktuellen Auseinandersetzung zwischen den Kulturen gemahlen werden müßte. Dieser Kampf der Kulturen würde sich im übrigen auch dann vollziehen, wenn ihn Huntington nicht vorhergesagt hätte. Er liegt in der Natur der Dinge. Der Westen reibt sich am Fernen Osten ebenso wie am Mittleren und Nahen Osten. Dabei werden die Spielregeln für die Koexistenz einer 8-bis-10-Milliarden-Menschheit ermittelt. Das gelingt natürlich nur, wenn die unvermeidlichen Konflikte zwischen den großen Akteuren nicht allzu destruktiv verlaufen. Andererseits reicht es auch nicht, wenn sich ein paar alleswissende Völkerrechtler und eifrige Protestanten in Washington treffen, um das Nötige zu diktieren, und dann warten, bis die anderen sich anschließen. Der Zorn bleibt eine Grundkraft, aber er wird sich nicht mehr in den Formen des 19. und 20. Jahrhunderts sammeln, als er in Kommunismus und Faschismus mündete. Er hat sich zum großen Teil in individuelle Ambitionen zurückgezogen und reagiert sich auf breitester Front in der Massenkultur ab – die man darum immer auch als Ventilfunktion und populäre Therapie begreifen muß.
Strehle: Sie sprechen etwa von Computerspielen?
Sloterdijk: Auch sie sind wichtig. Alle individualistischen und kollektiven Formen der Massenkultur haben zornbindende und abreaktive Funktionen. Das einzige, was jetzt nicht mehr in Frage kommt, ist das, wovon manche Intellektuelle noch immer träumen: ein neuer Kommunismus, eine neue Weltbank des Zorns. Dazu fehlt es an den entsprechenden Möglichkeiten der Sammlung. Ein zweiter Kommunismus ist noch unwahrscheinlicher als der Einschlag eines Riesenmeteoriten auf der Erdoberfläche in den nächsten tausend Jahren.
Strehle: Wenn Sie vom Konflikt an der asiatisch-westlichen Grenze sprechen, dann denken Sie auch an Nordkoreas Atombombe?
Sloterdijk: Nein, Nordkorea ist ein ganz anderes Problem. Das Land ist eine Singularität und vermutlich eine bloße Episode. Ich bin überzeugt, daß die Chinesen dieses Ärgernis früher oder später erledigen werden. Sollten die Nordkoreaner wirklich ausrasten, marschieren die Chinesen ein, da brauchen wir keinen Finger zu rühren. Deshalb erscheint mir die hysterische Reaktion der westlichen Welt auf die koreanische Drohung ziemlich absurd. Die USA sind zu weit weg, sie wären auch für allfällig vorhandene nordkoreanische atomar bestückte Langstreckenraketen nicht erreichbar. Osteuropa wäre vielleicht
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