Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
erreichbar, aber wozu?
Strehle: Ist das eher ein mythologisches Horrorbild: ein Wahnsinniger mit einer Bombe?
Sloterdijk: Ein Gutteil unserer Politik spielt immer im Kino und im Schauerroman. Vor bald zweihundert Jahren trat Frankenstein auf die Bühne, seither ist diese Rolle im massenimaginären Raum besetzbar. Ohne Horror keine Massenkultur. In deren Drehbüchern können auch reale Figuren mitspielen, weil das allgegenwärtige Amüsiersystem die Unterscheidung zwischen dem realen und dem fiktiven Schrecken weitgehend liquidiert hat. Man geht ständig durch die Drehtür vom Horrorgenre zum realen Terror und zurück. Man könnte auch sagen,Washington und Hollywood sind einander zu ähnlich geworden. Man muß hoffen, daß man eines Tages die realen Drohungen von den fiktiven wieder besser unterscheidet.
Strehle: Die nuklearen Entwicklungspläne des Iran sind eine reale Bedrohung? Nach dem Irak-Debakel wird die internationale Drohgebärde hier nicht mehr wirken.
Sloterdijk: Der Iran läßt sich offenbar nicht einschüchtern.
Strehle: Sehen Sie darin eine Gefahr?
Sloterdijk: Die Nuklearwaffen sind unsere Erfindung. Es liegt in der Natur der Dinge, daß andere uns in den riskantesten Aspekten unserer Zivilisation nachahmen. Es gehört zu den Risiken unseres »way of life«, daß uns ein iranischer Geisterfahrer auf unserer Spur entgegenkommt. Geisterfahrer sind bekanntlich immer davon überzeugt, daß alle anderen auf der falschen Spur fahren. Diese Einschätzung ist im Mittleren Osten gegenwärtig weit verbreitet: Der Westen fährt auf der falschen Seite, sie auf der richtigen.
Strehle: Eine Frage der Wahrnehmung.
Sloterdijk: Mehr noch: ein Krieg um die Wahrnehmung. Sagen wir es mal sehr vorsichtig: Die Wahrscheinlichkeit, daß durch eine iranische Atombombe Gutes entsteht, ist nicht sehr groß. Aber die Wahrscheinlichkeit, daß durch sie allzuviel Unheil angerichtet wird, scheint mir auch nicht übermäßig hoch. Bisher sind alle Atommächte von ihrem eigenen Waffenbesitz in die Pflicht genommen worden. Wer die Waffe hat, wird Teil des Systems der Abschreckung – soweit die bisherige Erfahrung reicht. Die einzigen, die die Bombe wirklich verwendet haben, sind die Amerikaner. Sie neigen daher am meisten zu dem Glauben, andere könnten ihre Hemmungslosigkeit nachahmen und die transzendente Waffe faktisch einsetzen. Der verrückte Feind – sprich der Akteur, der sich alles erlaubt – ist die eigene Frage als Gestalt.
Strehle: Und den oft beschworenen Einsatz von Atomwaffen durch Terroristen sehen Sie auch als Phantasma?
Sloterdijk: Das eigentliche Ärgernis des Terrors ist, daß er von viel ernsthafteren Problemen ablenkt.
Strehle: Von der sozialen Frage? Der Zerstörung der Ökosysteme?
Sloterdijk: Natürlich, die soziale Frage stellt sich in Europa jetzt wieder in neuer Form, die Ungleichheiten sind dramatisch gewachsen. Im Mittleren Osten stellt sich die soziale Frage hingegen als demographische Frage und damit als Bürgerkriegsrisiko. Da haben sich enorme psychopolitische Explosivstoffe angesammelt, die meistens religiös kodiert werden. Außerdem muß die Menschheit in den nächsten fünfzig Jahren die Wende zur postfossilen Energiewirtschaft schaffen. Die Umweltprobleme werden mit jedem Jahr akuter. Es gibt eine ganze Liste solcher Prioritäten ersten Ranges.
Strehle: Sie schließen Ihr Buch mit einem moralischen Appell: Wir sollten lernen, uns mit den Augen anderer zu sehen.
Sloterdijk: Das ist kein moralischer Appell, sondern ein ganz normaler intellektueller Habitus. Sich selber von außen sehen ist ein Modus vivendi, der eine gewisse Askese verlangt. Askese bedeutet schlicht und einfach Übung im Dienst der Fitneß. Dadurch hat der Ausdruck einen Bezug zur Moral. Die Lektion ist evident: Man muß in Form bleiben für alles, was kommt. Wir haben eine Ära gewaltiger Reibungen vor uns. Man kann die kommenden Konflikte nicht einfach wegzaubern. Marx hat einmal gesagt, es komme nicht darauf an, die realen Widersprüche aufzulösen, sondern darauf, ihnen eine Form zu geben, in der sie sich bewegen können.
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[ 23 ] Dieses Gespräch zwischen Peter Sloterdijk und Res Strehle erschien unter dem Titel »Also sprach Sloterdijk« in Das Magazin , der wöchentlichen Beilage des Tages-Anzeigers (4.-10. November 2006, S. 46-55).
Res Strehle ist Schweizer Journalist und Chefredakteur des Tages-Anzeigers (Zürich).
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