Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
die erotische Revolution des Bürgertums, die giergetrieben ist, und die thymotische Revolution der Armen, die nur funktioniert, wenn sie stolzgetrieben bleibt. Marx hat die Gierrevolution der Bourgeoisie nicht umsonst so lebhaft gefeiert und zugleich behauptet, daß sie nicht genügt. Denn die linke Revolution macht man nicht im Namen der Gier, sondern des Stolzes und seiner beiden moralischen Derivate, des Zorns und der Empörung. Ziel solcher Revolutionen war es, die Erniedrigten und Beleidigten mit Subjektwürde auszustatten. Das sind Ermächtigungsbewegungen, durch die der rote Faden des proletarischen Thymos läuft: Würde durch Arbeit! Würde durch Kampf! Sobald die Linke aber ihrerseits Gierpartei wird, wie bei uns überall, implodiert sie und wird Teil der totalen Mitte.
Feddersen/Lang: Wobei wir wieder bei den Studentenprotesten und den brennenden Autos in den Banlieues wären. Dann geht es doch um Zukunftschancen, um Verlangen nach Arbeit?
Sloterdijk: Da bin ich nicht so sicher. Wenn man die Beschreibungen der Protagonisten zugrunde legt, ging es in den Banlieues größtenteils um eine Form von Spaßrandale vor dem Hintergrund einer fürchterlichen sozialen Aussichtslosigkeit. Durch die Fernsehbilder wurde dank mimetischer Infektion eine Welle von Gewaltspielen ausgelöst – Autoanzünden mitHilfe einer Volksausgabe von Molotowcocktails, 1500 Brandstellen in einer Nacht.
Feddersen/Lang: Also ging es um Aufmerksamkeit der Beleidigten?
Sloterdijk: Ja, aber nicht im Sinn des Verlangens nach Würde, denn das ergäbe ein Projekt, das einen langen Atem verlangt. Es ging mehr um eine Sofortgratifikation für ein vandalisches Spektakel. Da findet man die modernen Medien in einem schuldhaften Bündnis mit den schlimmsten Tendenzen. Die Aufmerksamkeitsprämien sind immer am höchsten, wenn die Handlungen am scheußlichsten sind.
Feddersen/Lang: Womit sollte eine zivilisierende Linke dieses Anreizsystem ändern?
Sloterdijk: Die einzige Lösung des Problems würde darin bestehen, daß man die Marginalisierten in eine sinnvolle eigentumswirtschaftliche Dynamik einbezieht.
Feddersen/Lang: Also doch Arbeit für alle?
Sloterdijk: Ja, aber nicht im Sinne einer Festanstellung auf Lebenszeit. Man muß aus Kämpfern Unternehmer machen, es ist dieselbe Energie. Befriedigungseffekte treten auf, wo es entweder Positionen in der Arbeitswelt gibt oder sich die Leute selber Positionen auf einer Ehrgeizleiter schaffen.
Feddersen/Lang: Die Kinder müssen von der Straße?
Sloterdijk: Natürlich, Kinder von der Straße und Väter weg von Puff und Kneipe. Dies gelingt am besten durch breit angelegte Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, und die beste Arbeitsbeschaffung läuft nach wie vor über Ökonomie des Eigentums.
Feddersen/Lang: Wie wollen Sie das den Verlierern dieser Gesellschaft denn vermitteln? Fördern und fordern etwa?
Sloterdijk: Sehen Sie, wir haben doch strukturell nur drei Existenzformen: Unternehmer, Arbeitnehmer, Arbeitslose. Einen Unterschied, der einen Unterschied macht, gibt es nur bei den Arbeitslosen: Die einen werden passiv, die anderen zu Kriegern. Wenn sich Ressentiment und Kampfeslust treffen, rutschen die Aktivisten leicht in die faschistoide Position. Auch der Bürgerkrieg schafft Positionen. Es hat ja nicht nur der Krieg noch jeden Mann versorgt, um ein Diktum von Thomas Hobbes zu zitieren, sondern auch der Bürgerkrieg. Will man diese Variante ausschalten, bleibt nur die unternehmerische Alternative.
Feddersen/Lang: Sie setzen einiges voraus: souveräne, eigenverantwortliche Subjekte.
Sloterdijk: Die Hauptvoraussetzung ist, daß man die Arbeitslosigkeit neutral betrachtet. Sie ist zunächst ja nur der Ausdruck von zwei sehr wünschenswerten Entwicklungen, erstens daß Lohnarbeit nicht mehr für alle den wichtigsten Lebensinhalt ausmacht, zweitens daß Menschen von Tätigkeiten befreit werden, die besser von Maschinen ausgeführt werden. In diesem Sinn ist es eine gute Nachricht, daß die Arbeit weniger wird. Die zivilisierende Aufgabe der Linken hätte darin bestanden, diese Sicht zu kultivieren. Die Ersetzung von Menschen durch Maschinen ist absolut bejahbar, ebenso wie das Absinken der Lebensarbeitszeit innerhalb von 200 Jahren auf ein Drittel, das heißt rund 1700 Jahresstunden, bejahbar bleibt. Was wir entwickeln sollten, ist ein starkes Kultur- und Bildungskonzept für die Freigesetzten, verbunden mit Modellen freier Gemeinschaftsbildung, in denen sich Menschen auch außerhalb der Arbeitswelt
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