Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Aktivisten ihn als drohfähige Größe durchgesetzt haben. Ich habe in meinem Buch die Frage erörtert, ob es dem Islam gelingt, nach Katholizismus und Kommunismus die dritte Sammlung des Weltzorns zu organisieren, und ich sage nein.
Feddersen/Lang: Weshalb gelingt ihm das nicht?
Sloterdijk: Seine Voraussetzungen sind zu regional. Sie können den Unmut deutscher oder polnischer Arbeitsloser nicht islamisch sammeln. Natürlich, man kann sich gegenmodern in den Islam zurückziehen und sich in ihm stabilisieren, aber er läßt sich nicht zu einer Bewegung ausbauen, die aus der Mitte der Modernisierung kommt. Er kann keine bessere Moderne versprechen. Das war dem Kommunismus zeitweilig gelungen.
Feddersen/Lang: Inwiefern sind aber die Differenzen der Religionen ein Projekt der Linken?
Sloterdijk: Wenn es heute einen Weltkrieg gibt, dann hat er die Form eines Clashs der Monotheismen. Diese Antagonismen müssen zivilisiert werden.
Feddersen/Lang: Das klingt nicht wirklich neu. Wie diese Zivilisierung aussehen sollte, kann aber kaum jemand formulieren. Was wäre Ihr Vorschlag?
Sloterdijk: Zum Beispiel die zivilisierende Überformung der Religion durch die Kunst. Thomas Mann hat in seiner Romantetralogie Joseph und seine Brüder vorgemacht, wie so etwas geht. In dem Buch wird gezeigt, wie die exklusive und eifernde Form des Monotheismus sich dank der Begegnung mit einer Fremdreligion in eine inklusive Kunstreligion verwandelt.
Feddersen/Lang: Dies könnte die Linke übernehmen?
Sloterdijk: Nicht direkt. Von dieser Lektion sind zunächst einmal die Konfliktparteien betroffen, die Dogmen- und Positionsbesitzer, die einen Wahrheitsfundus verwalten. Aber gleich danach könnte die postkommunistische Linke ins Spiel kommen, sofern sie noch einen Sinn für die Produktivität von Kämpfen, Reibungen und Konfrontationen hat. Auch heute sind dieKämpfe die maßgeblichen Lernsituationen. Man darf sich keinen Illusionen hingeben. Die Menschheit ist noch mehr als zu Hegels Zeiten zur Autodidaktik auf Leben und Tod verurteilt. Der Krieg ist die primäre Schule, und wer nicht kämpft, lernt auch nicht. Neutrale Lehrer stehen nicht zur Verfügung. Aus dem Kampf selbst müssen die Regeln generiert werden, die über den Kampf hinausführen.
Feddersen/Lang: Also Klassenkampf?
Sloterdijk: Nun ja, der gute alte Klassenkampf baute auf einer prekären Siegesphantasie auf: Das Proletariat müßte die völlige Kontrolle über den Produktionsprozeß gewinnen, so wäre der Antagonismus mit dem Kapital beendet. Die Russische Revolution hat gezeigt, wohin das führt: zum Völkermord an der Bourgeoisie, begangen durch die noblen Henker, die Berufsrevolutionäre, die als Anwälte des Proletariats auftreten. Heute sind wir von einer solchen Anwaltschaft abgerückt und bevorzugen die Idee der Selbstorganisation an der Basis. In Zeiten des Massenelends konnte das Anwalts- oder Tribunenmodell vielleicht noch plausibel sein. Heute arbeiten wir mit Vernetzungsfiguren und gehen von selbstorganisierten Einheiten aus.
Feddersen/Lang: Sind Sie sicher, daß das für alle Strömungen innerhalb der Linken gilt?
Sloterdijk: Es gilt mit Sicherheit für die alternative Regenbogenkultur. Kann sein, daß Paläostalinisten und alte ML -Kader sich in dieser bunten Szene nicht wiederfinden, aber was soll's. Negri hat in Empire probiert, paläolinke Motive mit den neolinken Ansätzen zu kombinieren, ohne überzeugendes Ergebnis. Er hat nur die Masse in die Menge umbenannt und einen neuen Fetisch geschaffen. Den Regenbogen als alternatives Proletariat.
Feddersen/Lang: Multitude als Formel der Ausrede?
Sloterdijk: Ich würde es anders bewerten. Negri tut zunächst nur, was Linksradikale chronisch tun, er setzt die Suche nach dem Subjekt der Revolution fort. Dabei kommen ihmzwei Einsichten in die Quere: Das Subjekt ist nicht eines, sondern viele. Damit kann er fürs erste leben. Zusätzlich stellt sich heraus, daß Revolution ein überholter Begriff ist, weil der Kapitalprozeß und das Empire immer schon revolutionärer sind als ihre Gegner. Auch hier tut Negri so, als könne er mit dieser Erkenntnis leben, doch in Wahrheit annulliert sie seine Position. Er muß sich mit dem Schein der Zeitgemäßheit begnügen, indem er den Hymnus von Marx auf die umwälzende Macht der bürgerlichen Klasse auf den heutigen Stand bringt.
Feddersen/Lang: Der kleine Haken: Die Bourgeoisie wollte und will nicht revolutionieren.
Sloterdijk: Doch, da es zwei Typen von Revolution gibt,
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