Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
um noch mehr Wissen zu erzeugen.
Bopp: Das Wesen des Kapitalismus sind die Krisen.
Sloterdijk: Verwertungskrisen beobachten wir auch in den nichtmonetären Banksystemen. Das Wissen verliert an Wert, wenn das eintritt, was Thomas Kuhn einen »Paradigmenwechsel« nennt, also wenn sich neue Rahmenbedingungen für die Organisation von Erkenntnissen durchsetzen. In der Kunstgeschichte tritt die Krise als Modernisierungsschub auf, durch den ein neues Verhältnis zwischen dem Bestehenden und dem Neuen entsteht. Ich versuche nun zu zeigen, daß es auch im Bereich der politischen Affekte einen Akkumulationsprozeß und eine entsprechende Kapitalbildung gegeben hat. Vor allem die klassische internationalistische Linke hat sich als »Weltbank des Zorns« positioniert. Mit den Empörungs- und Zornguthaben von Millionen kleiner Eigentümer hat sie, über die nationalen Grenzen hinweg, eine emanzipatorische Politik zu treiben versucht.
Bopp: Mit dem Versprechen, daß die kleinen Leute dann auch der Privilegien der Reichen teilhaftig werden.
Sloterdijk: Nicht nur bei den Bankgeschäften darf man von Renditen und Dividenden sprechen. Auch die Guthaben an Zorn und Wut sollen sich verzinsen. Das ist dann der Fall, wenn die Einlagen der Kunden durch eine geeignete politische Praxis sich in gesteigerte Selbstachtung umrechnen. Habe ich mein Empörungsguthaben bei einer effektvoll wirtschaftenden Zornbank, das heißt einer zielstrebig arbeitenden Partei, deponiert, nehme ich nicht nur abstrakt an einem Weltverbesserungsunternehmen teil, sondern ich werde Teil eines Projekts, das mich stolz macht und mich affektiv besserstellt: Mein Zorn verwandelt sich in gesteigerte Selbstachtung. Leider haben die Parteien der Linken vor dieser Aufgabe oft versagt. Dann heben die Klienten ihre Guthaben ab. Sie werden entweder unpolitisch oder tragen ihr Erspartes zu einer rechten Bank – die macht dann direkte Rachepolitik und wählt die unzensierten Formen der Zornexpression. Die rechten Bankdirekten treten eher unzensiert als Radaubrüder, als Populisten, als Provokateure und Pöbler auf – und saugen damit die Frustwähler und Radausympathisanten an. Immerhin, wer sich mit den Pöbeleien seines Parteichefs identifiziert, erhält eine Genugtuung auf dem kürzesten Weg. Mein Zorn wird dann zwar nicht mehr idealistisch veredelt, aber ich kann ihn wenigstens expressiv ausleben. Daß dergleichen in Enttäuschung enden muß, liegt auf der Hand. Der Populist bekommt für eine ausgeteilte Ohrfeige anderthalb Ohrfeigen zurück – ein klassisches Verlustgeschäft. Allgemein gesprochen, das Problem der politischen Parteien, als Zornbanken verstanden, ist die Mißwirtschaft der Affekte. Das kann bis zum offenen Anlagebetrug gehen.
Bopp: Können Sie ein Beispiel geben?
Sloterdijk: In geschichtsphilosophischer Perspektive geschah im August 1914 der größte Affekt-Anlagebetrug in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Dies löste die Implosion des linken Internationalismus aus, nachdem die parlamentarische Linke in Deutschland und anderswo die Kriegskredite bewilligte und so auf die Linie der nationalen Kriegführungen einschwenkte. Dabei wurden transnational und fortschrittlich investierte Affektguthaben der Linken für einen nationalistisch-imperialistischen Krieg mißbraucht. Von dieser Katastrophe hat sich das System der Linken im Grunde nie mehr erholt. Das erklärt auch teilweise die krankhaften Radikalisierungen, die sich in Rußland nach 1917 abgespielt haben, und das Spintisieren auf den äußersten Flügeln.
Bopp: Heute scheinen in Westeuropa die thymotischen Erregungen ziemlich abgeebbt. Wir haben uns damit abgefunden, daß das kapitalistische System ausreichend für uns sorgt, und können ihm auch getrost die Gestaltung der Zukunft überlassen. Es gibt hin und wieder noch Kämpfe, aber die sind ritualisiert und finden periodisch zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern statt. Die Gewerkschaftsbosse müssen ihrer Klientel glaubwürdig demonstrieren, daß sie gekämpft haben und sich nicht über den Tisch haben ziehen lassen.
Sloterdijk: Diese Verhandlungsrituale sind aber viel wichtiger, als man gemeinhin glaubt, weil es bei ihnen um eine thymotische Rendite geht. Es dreht sich bei den Kämpfen der Tarifpartner nie nur um Prozente, es wird auch immer um die Befriedigung frustrierter Ansprüche auf Anerkennung gerungen.
Bopp: Dabei geht es uns doch so gut. Wir haben doch alles. Es steht jederzeit zur freien Verfügung. Konsumismus statt
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