Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
mehr erklären, wie etwas geworden ist, sondern es ergeben sich im Rückblick Etappen, Ereignisse, die sich gewissermaßen erfüllen und selbst wieder Keim zu weiteren Erfüllungen werden.
Sloterdijk: Man muß hier auf das Zusammenwirken zwischen dem unwillkürlichen und dem willkürlichen Gedächtnis achten. Das Phänomen des Ressentiments selbst ist aus Momenten des willkürlichen und des unwillkürlichen Gedächtnisses zusammengesetzt. Die Europäer konnten das jüngst an dem merkwürdigen Prozeß des Zusammenbruchs Jugoslawiensbeobachten. Milošević hat währenddessen den Serben den Mythos der herrischen Niederlage gepredigt. In seiner berüchtigten Rede zur 600-Jahr-Feier der Schlacht auf dem Amselfeld 1389 sagte er sinngemäß: Je mehr wir damals verloren haben, desto mehr haben wir seither gewonnen. Das war eine Art von Offenbarungseid für alle vom Ressentiment befeuerten Geschichten: »Wir« – wen auch immer er damit meinte, jedenfalls »ein Kollektiv auserwählter Verlierer« –.
Bopp: »Wir« sind in die Geschichte eingetreten …
Sloterdijk: Von solchen »Eintritten« aus habe ich spekulativ sehr weit reichende Konsequenzen abgeleitet. Ich habe vorgeschlagen, daß man die historischen Kollektive, die man gemeinhin »Völker« oder neuerdings »Nationen« nennt, als ressentimentverarbeitende Gruppen beschreiben soll, die sich durch die Erinnerung an gemeinsam erlittene Traumata selber unter Streß setzen. Wobei diese Traumata für die meisten etwas von weit her Ererbtes darstellen, etwas, das sie selbst gar nicht erlebt haben können. An eine Kränkung vor 600 Jahren kann ich mich als Individuum ja nicht erinnern, aber irgendwie erwerbe ich ein Mit-Eigentum an diesem Trauma.
Bopp: Identitäten, die den Keim zur Gewalt gewissermaßen bereits in sich tragen …
Sloterdijk: Die Deutschen haben nach dem Zweiten Weltkrieg exemplarisch vorgemacht, daß es auch einen anderen Weg aus der Kränkung gibt. Sie haben ihr Trauma so stark bearbeitet, daß sie aus dem Wiederholungszwang vollständig ausgebrochen sind. Sie sind – im wahrsten Sinn des Wortes – ein anderes Volk geworden.
Bopp: Sie haben vorher von »Eigentum am Trauma« gesprochen und arbeiten in Zorn und Zeit ja auch mit ökonomischen Metaphern. Es gibt da »Banken des Zorns«, bei denen man sein Erspartes anlegen kann. Der Zorn wird dadurch ein »Kapital«, das investiert werden kann. Und Investitionen tätigt man, damit sich das Kapital vermehrt. Aber wenn wir von »Banken« sprechen, dann muß es auch Bankiers geben, die mit dem Ressentiment-Kapital wirtschaften. Wer wären dann diese »historischen Subjekte«? Große Gestalten? Lenin oder Hitler?
Sloterdijk: Die Funktion der Ressentimentbanken wird vor allem von den politischen Parteien wahrgenommen. So kann man auch die Unterschiede zwischen Parteien am besten erklären: Je mehr sie an den Rand des Spektrums rücken, desto begründeter ist der Verdacht, daß sie es auf die Sammlung der »schmutzigen Energien« anlegen. Wobei der Unterschied zwischen den extremen Linken und den extremen Rechten darin besteht, daß die Linke die schmutzigen Energien aufgreift, um sie zu veredeln, während die Rechte sie mehr oder weniger ungefiltert ausdrückt. Der Befund des politischen Pathologen besagt, daß die Linke eher träumt und heuchelt, während die Rechte eher krakeelt und stinkt. Über die kriminellen Energien, die auf beiden Seiten am Werk sind, ist damit nichts gesagt. Befragt man die historische Erfahrung, zeigt sich, daß im 20. Jahrhundert auf einen Mord im Namen der Rasse zwei bis drei Morde im Namen der Klasse kommen.
Bopp: Können Sie nochmals erklären, wie dieses Bank-Schema funktioniert?
Sloterdijk: Man muß vorausschicken, daß nicht nur Geld akkumuliert werden kann, sondern auch Affekte wie Zorn. Darüber kennen auch Wissen oder Kunstsammlungen kapitalanaloge Funktionen. Analog dazu sammelt die Kirche die Schätze des Heils. Von Kapital kann man immer dort sprechen, wo an einer Sammelstelle Werte zusammengebracht werden, um von der Schatzform in die Kapitalform überführt zu werden. Ein Schatz liegt träge auf einem Haufen, wie im Speicher von Dagobert Duck – oder in den sagenhaften Goldkellern unter der Zürcher Bahnhofstraße. Hingegen ist das Kapital immer auf Reisen, auf Investitionstour.
Bopp: Folglich ist auch das Wissen nicht an sich »wertfrei«?
Sloterdijk: Als Forschung ist das Wissen kapitalförmig strukturiert. Akkumuliertes Wissen wird als Kapital verwendet,
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