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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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zu. Dabei gerät die Seriositätsvermutung hinsichtlich des Kreditnehmers ins Wanken. Sie wird am schnellsten aufgezehrt, wenn sich die ganz Großen als die Skrupellosesten erweisen, weil von vornherein keine ernste Tilgungsabsicht in ihre Überlegungen einfließt.
    Steingart/Riecke: Sie meinen die Vereinigten Staaten?
    Sloterdijk: Bei den Amerikanern kann man das sehr gut sehen: Bei ihnen denkt seit langem niemand mehr darüber nach,wie man die Staatsschuld tilgen könnte. Zwar reden viele vom Sparen, aber im heutigen Sprachgebrauch meint das, die Neuverschuldung zu verringern. Meine Großmutter hat den Begriff des Sparens noch ganz anders interpretiert.
    Steingart/Riecke: Der Begriff ist uns im Mund herumgedreht worden?
    Sloterdijk: Früher hat man unter Sparen verstanden, daß etwas beiseitegelegt wird. Heute benutzen die Finanzminister das Wort, um sich selbst dafür zu gratulieren, wenn sie weniger neue Schulden aufnehmen.
    Steingart/Riecke: Also Freispruch für die Banken?
    Sloterdijk: Vorsicht!: Nicht die Banken als Banken tragen die Verantwortung für alle Fehler. Für die geldgetriebene Gesellschaft ist ein ehrlicher Tilgungsglaube zunächst unentbehrlich.
    Steingart/Riecke: Schon eine Tilgungsillusion wäre viel wert, möchte man sagen. Doch selbst die ist im Falle Griechenlands, aber auch im Falle Japans und der USA , irreal.
    Sloterdijk: Tilgungsillusion ist ein schöner Name für ein vom Staat geschütztes moralisches Konstrukt – vorausgesetzt, der Staat selber bleibt als Schuldner glaubwürdig. Davon kann heute kaum noch die Rede sein.
    Steingart/Riecke: Die Illusion wird dadurch bedient, daß die Schulden immer wieder umgewälzt werden. Alle Schuldenstaaten zahlen alle paar Monate ihre Schulden mit neuen Schulden zurück.
    Sloterdijk: Das ist eine Idee, die selbst Dante nicht hätte einfallen können. Man müßte jetzt zu seiner Göttlichen Komödie einen vierten Teil hinzuschreiben. Bekanntlich hat Dante das Purgatorium als Reinigungsanlage für läßliche, sagen wir tilgbare Sünden konzipiert. Die sind mit sieben »P« auf der Stirn der Sünder notiert – auch in der Reinigungshölle geht alles Wichtige nur schriftlich. Nach jeder Etappe wird ein P (für peccatum) gelöscht, bis der ehemalige Sünder mit einer reinen Stirn dasteht. Kein Mensch des Mittelalters konnte ahnen, daß man Belastungen aus der Vergangenheit umschulden könnte.Im Anbau zum Purgatorium würde aber genau dies passieren. Der Nachteil ist, man käme nie mehr ganz von der Vergangenheit los, und von der Übernahme in die Sphäre der himmlischen Freuden ist nicht mehr die Rede.
    Steingart/Riecke: Ludwig Erhard hat gesagt, zur Sozialen Marktwirtschaft gehört auch das Maßhalten. Haben wir das verlernt?
    Sloterdijk: Die meisten Menschen bekommen ihr Maß durch ihre Einkünfte gezeigt. Gut, man kann Einkünfte durch den Privatkredit hochstaplerisch steigern, aber die Maßgabe liegt im Einkommen, und das ist bei den allermeisten Menschen bescheiden genug, um dafür zu sorgen, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen.
    Steingart/Riecke: Der Bürger, das Ich, hält Maß. Aber sein Staat, das »Wir«, kann es nicht?
    Sloterdijk: Man darf eines an dieser Stelle nicht vergessen: Das 20. Jahrhundert war in seiner ersten Hälfte durch die sogenannte Systemkonkurrenz geprägt. Wir hatten den real existierenden Sozialismus vor der Haustür, sprich die kommunistische Kommandowirtschaft. Die Lage sorgte für enormen psychopolitischen Druck, gerade bei uns. Aus dem ist die allgemeine Sozialdemokratisierung des Westens hervorgegangen. Mit anderen Worten: Eigentlich hat uns Genosse Stalin den Sozialstaat geschenkt. Doch eben diese Konkurrenz hat definitiv aufgehört, und zwar lange vor der Implosion der Sowjetunion. Schon Margaret Thatcher wußte, was sie tat, als sie damals den Streit mit den britischen Bergarbeitern über ein Jahr lang ausgehalten hat.
    Steingart/Riecke: Zu ihrer Zeit war der Kommunismus allerdings noch lebendig.
    Sloterdijk: Es gab ihn noch als System, aber nicht mehr als Inspirationsquelle oder als Drohkulisse. Der Kommunismus war spätestens seit 1975 in seiner Papiertigerqualität durchschaut. Damals gab es Autoren, die allen Ernstes meinten: Jetzt erst kann man erstmals den real existierenden Kapitalismus probieren. Bis dahin gab es ja nirgendwo reinen Kapitalismus, sondern nur Mischsysteme, sagen wir einen weltweit relativ erfolgreichen Semi-Sozialismus, der sich in der Systemalternative Sozialdemokratie versus

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