Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
zugerufen haben – von Natur aus asoziale Wesen, und nur die Furcht vermag sie zur Koexistenz zu zwingen. Denken Sie an Schopenhauer: Die bürgerliche Gesellschaft gleicht einer Gruppe von frierenden Stachelschweinen, die sich um der Wärme willen zusammendrängen und sich dabei nur gegenseitig weh tun können. Das sind Bilder, die den Pessimismus der schwarzen Anthropologie hinreichend belegen. Aber es gibt auch eine andere Linie. Wenn wir bei den »Moral Sense«-Philosophen, aus denen die Nationalökonomie hervorgegangen ist, bei den Schotten, bei Adam Smith und bei Lord Shaftesbury nachschlagen, einer der wunderbarsten Figuren der europäischen Geistesgeschichte,bekommt man ein völlig anderes Bild. Shaftesbury lehrte und praktizierte einen Enthusiasmus der Geselligkeit.
Steingart/Riecke: Auch Wilhelm Röpke ging in Jenseits von Angebot und Nachfrage von einem Menschenbild aus, das den Kapitalisten nicht nur als Bestie und den Staat nicht nur als Behelfsmaschine dachte.
Sloterdijk: Die konvivialen Denker gehen davon aus, daß der Mensch ein Wesen ist, das sich in Gesellschaft wohl fühlt. Es spiegelt sich gern in den Blicken der anderen, es ist voll von empathischen Tugenden. Hier herrscht die These, daß Anteilnahme unsere erste Natur ist und daß bürgerliche Kälte erst auf dem zweiten Bildungsweg erworben wird, durch epochenlange negative Dressuren, deren Ergebnisse von Philosophen zu dunklen anthropologischen Theorien übersteigert werden.
Steingart/Riecke: Weil wir die Empathie wegredigiert haben.
Sloterdijk: Dennoch ist Empathie die Grundgegebenheit. Alles andere sind eher erworbene Laster. Kurzum, ich will auf eines hinaus: Menschen in einer Fiskaldemokratie, in der verschleppte Elemente aus dem Absolutismus weiterleben, sind ja ohnehin daran gewöhnt, als Geber in Anspruch genommen zu werden. Sie würden also nicht mehr leiden, als sie jetzt leiden, wenn wir von der offiziellen Seite her eine neue Sprachregelung zur Lenkung der öffentlichen Emotionen einführen, in der es heißt: Alles, was wir in die Gemeinwesenkasse einzahlen, sind ab heute keine Steuern mehr, sondern Gaben des Bürgers. Daß es künftig Gaben sind, ändert nichts an ihrem verpflichtenden Charakter. Das ist übrigens der Ausgangspunkt der fast durchwegs ignoranten Debatte über meine Thesen gewesen, die vor zwei Jahren das deutsche Feuilleton erschütterte. Da kamen lauter Leute zu Wort, die Marcel Mauss nicht gelesen haben: Er war es, der darauf hingewiesen hat, daß in der Gabe eine merkwürdige Einheit von Pflicht und Freiwilligkeit vorliegt. Seine Theorie über die zwei Naturen der Gabe enthält alles, was man wissen muß, um die Umstellung von Konfiskation auf Gabe bei der Füllung der Gemeinwesenkasse plausibel zu finden. Im übrigen war Mauss Sozialist, und er wußte, worum es ging. Die Spontaneität der Gabe hebt ihren Pflichtcharakter nicht auf – das geht den alteingefleischten Etatisten und Fiskalisten nicht in den Kopf. Nur von dieser Idee her, daß die gesamte Gesellschaft in Gabenströmen funktioniert und nicht mehr von Schuldsteuern her animiert wird, kann sich eine alternative Interpretation des sozialen Zusammenhangs ergeben.
Steingart/Riecke: Viele Anhänger haben Sie mit Ihrer Idee bislang nicht gefunden. Das Nehmen scheint uns seliger als das Geben.
Sloterdijk: Die deutschen Sozialdemokraten haben gerade wieder auf ihrem Parteitag über Steuererhöhungen diskutiert. Aber was sie nicht begreifen wollten, ist, daß in Amerika in den letzten Jahren mit der Initiative »The Giving Pledge« die Sozialdemokratisierung der Milliardäre begonnen hat. Sozialdemokratie lebt von der einfachen Formel: die Hälfte für die Gemeinschaftskasse. Mir haben die Ohren geklingelt, als ich Warren Buffett reden hörte, denn er und seine Mitstreiter scheinen genau diese Zahl im Bewußtsein zu haben. Offenbar sind in den Köpfen amerikanischer Milliardäre die Botschaften der 50-Prozent-Logik angekommen. Und hier laufen all diese Plattfußpsychologen herum und sprechen immer noch die Sprache der Drohung, wenn es um Steuererhöhungen geht.
Steingart/Riecke: Ihr Held ist eher Warren Buffett als Sigmar Gabriel?
Sloterdijk: Ich halte Sigmar Gabriel für sehr lernfähig. Ich stütze mich dabei auf persönliche Beobachtung und auf eine mittelalterliche Weisheit. Wem Gott ein Amt in Aussicht stellt, dem schickt er schon im voraus den Verstand, der zu dem Amt gehört.
Steingart/Riecke: Was will der Dichter uns damit sagen?
Sloterdijk:
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