Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Leninismus durchgesetzt hatte. Das Wegfallen des Ostblockdrucks ergab die neoliberale Episode, die sich heute ihrem Ende zuneigt.
Steingart/Riecke: Noch einmal zu Ihrem Begriff des Semi-Sozialismus: Haben wir die Konvergenz der Systeme vielleicht zu weit getrieben? Der Sozialismus ist ja bekanntermaßen auf Verschleiß gefahren worden: Die Maschinen sind verschlissen, die Menschen, das Geistige, aber auch die Häuser. Wir im Westen haben es aber – anders als von der Linken oft behauptet – nicht von den Reichen genommen und den Armen gegeben, sondern wir haben es von Gläubigern genommen. Der Semi-Sozialismus hat sich mit den Banken verbündet, hat sich nachts Kredite besorgt, um am nächsten Tag die Wähler zu beeindrucken. Haben wir nicht den Verschleiß einfach nur in die Zukunft verlagert?
Sloterdijk: Die Staatsschulden sind zu einem wesentlichen Teil ein Indikator für ein strukturelles Sozialismusdefizit in der Gemeinschaftskasse. Was man sich nicht in Form von Besteuerung holen kann, läßt man sich durch leichtsinnige Gläubiger kreditieren. Das Sozialismusdefizit drückt sich präzise aus im Ausmaß der Staatsverschuldung. In der Zeit des blühenden Rheinischen Kapitalismus war die Staatsverschuldungsquote niedrig, weil unter konservativen Regierungen der Semi-Sozialismus besser funktioniert. Die Soziale Marktwirtschaft von Ludwig Erhard umschreibt dieses Konzept auf so sonore Weise, daß auch Konservative es sich gefallen lassen. In Wahrheit leben wir längst in einem massenmedial integrierten, fiskalisierten Semi-Sozialismus auf der Grundlage einer zinsgetriebenen Ökonomie, die viele Leute Kapitalismus nennen.
Steingart/Riecke: Es war also nicht die »unsichtbare Hand des Marktes«, sondern die unsichtbare Hand Stalins, die uns die Soziale Marktwirtschaft beschert hat?
Sloterdijk: Die Hand Stalins hat sicher eine große Rolle gespielt, und auch die gewerkschaftlichen Positionen von damals waren viel stärker. Vor allem aber hatten wir eine ganz andere psychopolitische Grundsituation: Praktisch alle haben noch an unaufhaltsame Verbesserungen geglaubt. Der eigentliche historische Einschnitt hat in dem Moment stattgefunden, als die Menschen in unserem Weltteil nicht mehr auf einen hellen, sondern auf einen bewölkten, sogar drohenden Horizont schauten. Das ist die psychopolitische Primärtatsache im gegenwärtigen Westen. Damals haben wir Luxuspessimismen kultivieren können: Erinnern wir uns nur an das Waldsterben. Wir haben auch die nukleare Bedrohung im luxuspessimistischen Sinn hysterisiert und übersteigert. Jetzt sind die Realpessimismen obenauf.
Steingart/Riecke: Wie kommen wir aus diesem Schuldenschlamassel wieder raus? Der neoliberale Weg ist politisch diskreditiert, der Glaube an den starken Staat kehrt zurück. Hatten die Linken doch recht, wie FAZ -Herausgeber Frank Schirrmacher meint?
Sloterdijk: Die Linke kann leider nicht recht haben, weil sie keine neue Idee in die Debatte eingeführt hat. Sie wiederholt nur erschöpfte Slogans: Man muß es mit Gewalt bei denen holen, die es haben.
Steingart/Riecke: Die Schuldfrage beantwortet die Linke eindeutig: Die Banken sind schuld. Sie haben uns wie ein Dealer vollgepumpt mit dem Schuldenstoff.
Sloterdijk: Das ist so, wie wenn der Zigarettenraucher, der einen Tumor bekommt, gegen Marlboro klagt.
Steingart/Riecke: Aber wer soll die Staaten aus ihrer selbstverursachten Misere befreien? Muß das Geld am Ende nicht doch von den Reichen kommen?
Sloterdijk: Das ist naheliegend. Das Geld ist da. Der Reichtum ist überwältigend. Jedoch: Wir haben über Jahrhunderte hinweg psychopolitisch immer auf dem falschen Bein Hurra geschrien. Wir haben die Umverteilung als eine Angelegenheitbetrachtet, die entweder, wie im Leninismus, mit mörderischer Gewalt oder mit mittelsanfter fiskalischer Gewalt wie in den westlichen Systemen vollzogen werden kann. Dabei hat man die Rechnung ohne die Bürger gemacht.
Steingart/Riecke: Geben die Reichen ihr Geld denn freiwillig?
Sloterdijk: Sehen Sie, Steuern sind ein wunderbares Instrument, um die Gebefähigkeit von Populationsschichten auszutesten. Wir haben 40 Millionen Berufstätige in Deutschland. Ungefähr 16 Millionen sind aufgrund niederer Einkommen von den direkten Steuern ausgenommen. Die sind auch bei der Mehrwertsteuer nicht sehr aktiv beteiligt, weil sie einen Großteil ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben, die nur mit sieben Prozent belastet sind. Es ist also Schwachsinn, wenn man in der
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