Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Steuerdebatte oft hört, daß alle gleich viel Mehrwertsteuer zahlen. Schaut man sich diese Scheinwahrheit näher an, liegen natürlich auch bei dieser Steuer dieselben Leute vorn, die schon bei der Einkommensteuer den Löwenanteil leisten.
Steingart/Riecke: Weil manche absolut und relativ nicht auseinanderhalten können und sich dann auf die relativen Sätze beziehen. Die Sätze sind bei den kleineren Einkommen relativ hoch, die Einnahmen daraus absolut niedrig.
Sloterdijk: Die angeblichen Steuerexperten gebrauchen ihren Menschenverstand nicht, der ihnen sagen würde, daß die bei der Einkommensteuer Aktiveren aufgrund ihrer höheren Konsumintensität natürlich auch den größeren Teil der Mehrwertsteuererträge aufbringen, auch wenn es wahr bleibt, daß die Mehrwertsteuer alle betrifft. Aber die neue Idee liegt auf der Hand: Wir haben einerseits eine Gesellschaft mit sehr hohem privatem Reichtum, andererseits riesige öffentliche Schulden. Die reiche Stadt Bremen ist dafür ein gutes Beispiel, weil sie zugleich die Stadt mit den höchsten öffentlichen Schulden ist. Was folgt daraus? Ein Kind könnte es herausfinden.
Steingart/Riecke: Sie wollen den linken Professoren in Bremen ans Portemonnaie?
Sloterdijk: Man muß die Starken bei ihrer Stärke aufrufen, das ist richtig. Aber man darf es eben nicht mehr im Modus der konfiskatorischen Besteuerung tun. Wir müssen endlich die gesamte Sphäre der öffentlichen Finanzen in eine Ehrenangelegenheit umwandeln. Das ist psychopolitisch ein sehr anspruchsvolles Manöver, so was dauert gut und gern hundert Jahre. Man muß sich aber die historischen Dimensionen des Problems klarmachen: Wir haben geglaubt, die Vornehmheitsfrage sei erledigt, seit in der Französischen Revolution jede Menge Aristokratenköpfe abgeschlagen wurden. Aber sie ist nicht erledigt. Das Resultat der Französischen Revolution sollte nicht sein, daß das Staatsvolk das Recht bekommt, sich wie die Kanaille zu verhalten, im Gegenteil: Das Volk wird in den Adelsstand erhoben. Ich glaube, wir haben die besseren psychopolitischen Tendenzen der Französischen Revolution nicht nachvollzogen – die Freisetzung der Kanaille ist jedoch weithin gelungen.
Steingart/Riecke: Haben wir den adeligen Gedanken als Menschen in uns?
Sloterdijk: Die einzigen, die bewiesen haben, daß der Bürgersinn den Staat wie nebenbei tragen kann, sind die Schweizer. Im Film »Helden« sagt O. W. Fischer sinngemäß: »Es gibt keinen schöneren Adelstitel als die einfache Schweizer Anrede ›Herr‹.«
Steingart/Riecke: Haben uns nicht die modernen Griechen gelehrt, daß die Reichen freiwillig nicht zahlen? Griechenland lebt ja quasi dieses Modell eines abstinenten Staates, der die Steuern zwar verlangt, aber nicht eintreibt.
Sloterdijk: Die Idee des Staates ist in Griechenland noch gar nicht angekommen. Ich ärgere mich jedesmal, wenn die Leute sagen, Griechenland sei die Wiege der Demokratie. Das reale Griechenland ist eine psychopolitische Ruine, in der eine vierhundertjährige türkische Besatzung einen Bodensatz an Resignation, an Privatismus, an Schlaumeierei, an Staatsferne hinterlassen hat. Man denkt da an einen Satz von Joseph de Maistre über die Türken in Griechenland. Die hatten übrigensgenügend Zeit, Europäer zu werden, als sie 400 Jahre auf europäischem Boden saßen. Aber was geschah? Die Griechen wurden orientalisiert, es mißlang ihnen, die Türken zu okzidentalisieren – falls sie es je versucht haben sollten. Damals wußten sie aber selber noch nichts vom Märchen über die Wiege der Demokratie. Über die Türken von damals sagt der französische Autor: Sie blieben Tartaren, die auf europäischem Boden kampierten.
Steingart/Riecke: Wo steht die Wiege der Demokratie? In Paris?
Sloterdijk: Eher in Rom. Es geht ja zunächst gar nicht um Demokratie als Volksherrschaft, vielmehr um die res publica , es geht darum, daß es einen öffentlichen Raum gibt, in dem Menschen empfinden, es sei das Ehrenhafteste, was ein Mensch tun kann, wenn er an der Gestaltung des Gemeinwesens mitwirkt. Und das ist eher römische Staatsphilosophie gewesen als griechisches Erbe.
Steingart/Riecke: Aber wie bekommt man die psychopolitische Wende hin, von der Sie sprechen und die sie fordern, bei der die Bürger freiwillig geben, ohne daß der Staat zusammenbricht?
Sloterdijk: Prinzipiell gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder sind die Menschen – wie die Vertreter der schwarzen Anthropologie von Thomas Hobbes bis Adorno es uns
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