Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
jeder Passant ein Idiot sein müßte, der es nicht mitnimmt? Es sind letztlich die Zentralbanker gewesen, die die Spekulation ermöglicht haben.
Steingart/Riecke: Weisen Sie uns den Weg aus dieser Idiotie.
Sloterdijk: Man muß die Möglichkeit der Realwirtschaft, an Kredite zu kommen, abkoppeln von der spekulativen Zwischenwelt der Geschäftsbanken, der Fonds und ähnlicher Einrichtungen. Das heißt also: Wenn schon der Staat sich als »lender of last resort« nützlich machen will, dann soll er im Notfall Abkürzungen für die echten Kreditsucher in der Wirtschaft anbieten, statt acht Zehntel des klugen Geldes zu Niedrigstzinsen den Spekulanten nachzuwerfen. Einen solchen Shortcut zwischen der Bank höchster Instanz und der Realwirtschaft müßte man mal ausprobieren, dafür haben wir ja schlaue Institutionendesigner, die von solchen Dingen etwas verstehen. Das wäre eine einfache Maßnahme, um die zu mächtig gewordene Finanzmarktbranche systemimmanent in ihre Grenzen zu weisen.
Steingart/Riecke: Am Anfang haben wir die Banker als Gläubiger freigesprochen. Bei der Schuldfrage kommen wir jetzt doch ein Stück weiter und sagen: Die Zentralbanker sind schuld?
Sloterdijk: Unter der Voraussetzung, daß der Grundfehler schon gemacht ist, haben viele Banken sich richtig verhalten – aber wie bekannt, gibt es kein richtiges Leben im falschen. Außerdem gab es die schwarzen Schafe der Branche, die sich schuldig gemacht haben, über das Mitspielen im bösen Spiel hinaus. Zahllose Mitspieler haben aus dem Strukturfehler des Finanzsystems unendlich Kapital geschlagen und eine hübsche Vermögenswertinflation hervorgebracht, die für die Augen des gewöhnlichen Konsumentenpublikums nicht so ohne weiteres sichtbar wurde. Das Volk mußte allerdings den Eindruck haben, die Reichen werden immer reicher und die Armen immer ärmer. Das stimmt nur teilweise, weil in der versteckten Inflation die hingeschriebenen Vermögenswerte der Reichen zwar größer werden, doch die fingierten Werte lassen sich kaum in Marktpreise übersetzen. Man sieht es an dem Häuserschrott in den USA und in Spanien, der jetzt unverkäuflich herumsteht.
Steingart/Riecke: Was haben Sie aus Ihrer Schreibtischlektüre – Bagehots Klassiker Lombard Street aus dem Jahr 1874 – über unser heutiges System gelernt?
Sloterdijk: Darin findet man wahrscheinlich erstmals diese Idee, die heute überall falsch angewendet wird, also die Empfehlung, daß die Zentralbanken die Welt kurzfristig mit Geld fluten, wenn Rezession droht. Bagehot hat gewußt, wie schlimm eine Rezession sein kann. Er empfahl, die Verknappungskrisen zu meiden und lieber zu riskanten Mitteln zu greifen. Daß man Märkte jahrzehntelang fluten würde, wie in der Anstalt Greenspan und Partner üblich, das lag schlechterdings außerhalb seiner Vorstellungskraft.
Steingart/Riecke: Aber damit wäre die Krise bei Ihnen das Ergebnis von Staatsversagen. Dennoch sehen Sie Frau Merkel in einem milden Licht. Warum?
Sloterdijk: In der Tat, ich sehe sie im Moment in einem etwas milderen Licht. Sie ist jetzt die erste Essayistin im Staat. In dieser Eigenschaft kann man sich über sie gar nicht lustig machen, weil sie sich da an der Spitze des Gemeinwesens wirklich plagt. Sie hat auf jeden Fall durch ihren Widerstand gegen die Euro-Bonds jetzt schon den Wirtschaftsnobelpreis verdient. Und das, obwohl sie europaweit umzingelt ist von Sozialpopulisten, die das tödliche Spiel gerne noch weitergetrieben hätten.
Steingart/Riecke: Bekommt sie auch von der Ökonomie als Wissenschaft zu wenig Unterstützung?
Sloterdijk: Die Wirtschaftswissenschaft macht auf mich den Eindruck einer Disziplin, die ihre Grundlagen verloren hat. Die ganze Fakultät ist in einem desolaten Zustand. Man bekommt mehr und mehr das Gefühl, die Theorien als solche sind sich selbst wahrmachende Fiktionen, die man an keinem äußeren Maßstab festmachen kann. Für den Erkenntnistheoretiker ist das keine ganz neue Beobachtung. Niklas Luhmann hat schon vor 20 Jahren statuiert: Gute Theorie ist wie Instrumentenflug über einer geschlossenen Wolkendecke. Sichtflugist nur für Amateure, der Durchblick bis auf den Grund ist für den Sozialwissenschaftler immer schädlich, weil er den Einflüsterungen seiner Subjektivität und Sentimentalität erliegt.
Steingart/Riecke: Wir leben in Zeiten des permanenten Streßtests für unsere Bürger. Jetzt erwarten wir uns vom Philosophen zum Abschluß Trost.
Sloterdijk: Ich habe einen Trostspender der
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