Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
»abstrakten Universalismus« der Aufklärung , sondern um die reale Universalität eines monströsen Kollektivs , das anfängt, eine wirkliche Verkehrsgemeinschaft zu sein mit erweiterten Möglichkeiten für ständige Begegnungen und Zusammenstöße. Wir sind wie die Teilchen eines unter Druck stehenden Gases geworden. Die Frage ist nunmehr die der gesellschaftlichen Bindung innerhalb einer zu großen Gesellschaft; und ich glaube, daß das Erbe der sogenannten Religionen wichtig ist, weil sie die ersten Versuche metanationaler oder metaethnischer Synthesen darstellten. Der buddhistische Sangha war ein Raumschiff, in dem die Fahnenflüchtigen aller Ethnien Unterschlupf finden konnten. Ebenso könnte man das Christentum beschreiben, das eine Art von gesellschaftlicher Synthese ist, die die Dynamik der geschlossenen Ethnien und die Unterteilungen der Klassengesellschaften transzendiert. Der Dialog der Religionen in unserer Zeit ist nichts anderes als die Neuformatierung des Problems des »Kommunismus«. Die Versammlung, die 1900 in Chicago stattfand, der Kongreß der Weltreligionen, war eine bestimmte Art und Weise, die Frage nach unserer Aktualität anhand dieser Fragmente, dieser Vertreter jeglicher Herkunft, der Mitglieder der menschlichen Familie zu stellen, die sich nach dem Auszug aus Afrika aus den Augen verloren hatten … Im Zeitalter der Zusammenkunft muß man alles, was man bisher über das Band der Koexistenz einer überbordenden Menschheit gedacht hat, neu ordnen und reformatieren. Deshalb verwende ich den Begriff des »Ko-immunismus«. Alle gesellschaftlichen Verbände der Geschichte, von den ursprünglichen Horden bis zu den Weltreichen, sind tatsächlich Strukturen der Ko-immmunität. Die Wahl dieses Begriffs erinnert an das kommunistische Erbe. Meiner Analyse zufolge geht der Kommunismus auf Rousseau und seine Ideeder »Religion des Menschen« zurück. Es handelt sich um einen radikal immanenten Begriff, um einen Kommunitarismus im Weltmaßstab. Diese übertriebene Homogenisierung mußte zu furchtbaren Konsequenzen führen – aber möglicherweise waren das Fehler, die man nicht vermeiden konnte. Jetzt wissen wir mehr, und die Problematik bedrängt uns trotzdem. Wir können dieser Situation nicht entkommen. In meinem Buch ist die Göttin oder das göttliche Wesen, das auf den letzten Seiten erscheint, die Krise: Sie ist die einzige Instanz, die genügend Autorität besitzt, um uns zu veranlassen, unser Leben zu ändern. Unser Ausgangspunkt ist eine niederschmetternde, offenkundige Wahrheit: So können wir nicht weitermachen.
ŽIŽEK: Mir schwebt nicht so sehr vor, nach einem »Ko-immunismus« zu suchen, sondern vielmehr die Idee eines wahrhaften Kommunismus wiederzubeleben. Um Mißverständnissen vorzubeugen: Es handelt sich eher um den Kommunismus Kafkas als um den Stalins, mehr um den von Erik Satie als um den von Lenin! In seiner letzten Erzählung Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse entwirft Kafka die Utopie einer egalitären Gesellschaft, eine Welt, in der die Künstler, wie z. B. die Sängerin Josefine, deren Gesang die Massen zusammenströmen läßt, fesselt und in Staunen versetzt, die gefeiert und umschmeichelt wird, ohne jedoch materielle Vorteile daraus zu ziehen. Eine Gesellschaft der Anerkennung, die das Ritual beibehält, die Feste der Gemeinschaft wiederbelebt, aber ohne Hierarchie oder Herdenverhalten. Das gleiche gilt für Erik Satie. Alles scheint jedoch den berühmten Autor der Gymnopédies , der erklärte, eine »Möbelmusik« zu komponieren, eine Umgebungs- oder Hintergrundsmusik, von der Politik zu entfernen. Und dennoch war er Mitglied der kommunistischen Partei. Weit entfernt davon, Propagandalieder zu schreiben, ließ er jedoch eine Art von kollektiver Intimität hörbar werden, das genaue Gegenteil der Fahrstuhlmusik. Und darin besteht meine Vorstellung des Kommunismus.
LE MONDE: Um aus dieser Krise herauszukommen, entscheiden Sie sich, Peter Sloterdijk, für die Reaktivierung individueller spiritueller Übungen, während Sie, Slavoj Žižek, auf der politischen, kollektiven Mobilisierung sowie auf der Reaktivierung der emanzipatorischen Kraft des Christentums bestehen. Warum diese Divergenz?
SLOTERDIJK: Mein Vorschlag lautet ganz einfach, den Pragmatismus in das Studium der sogenannten Religionen einzuführen. Diese pragmatische Dimension zwingt Sie, das, was die religiösen Menschen tun, genauer zu betrachten, nämlich die inneren und äußeren Praktiken, die
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