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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Sonderklasse entdeckt.
    Steingart/Riecke: Einen Whiskey?
    Sloterdijk: Einen der schönsten Sätze, der mir seit langem untergekommen ist. Er stammt von Piet Klocke. Den kennen Sie?
    Steingart/Riecke: Ja, natürlich.
    Sloterdijk: Das ist dieser herrliche Kabarettist …
    Steingart/Riecke: … der so redet wie Herr Rürup?
    Sloterdijk: Er hat herausgefunden: Bei den meisten Sätzen lohnt es sich nicht, sie zu Ende zu sprechen. Sofort ist er dann schon beim nächsten Satz. Also, ich denke, diesen Satz von Piet Klocke kann man trostbedürftigen Menschen mit auf den Weg geben. Er lautet: In jedem noch so großen Chaos steckt immer auch ein Fünkchen Hoffnungslosigkeit.
    Steingart/Riecke: Herr Sloterdijk, wir danken Ihnen für das Gespräch.
    ----
    [ 29 ] Dieses Gespräch zwischen Peter Sloterdijk, Gabor Steingart und Torsten Riecke erschien unter dem Titel »Die Staaten verpfänden die Luft und Banken atmen tief durch« im Handelsblatt (17. Dezember 2011).
Gabor Steingart ist ein deutscher Journalist und Autor. Er war von 2010 bis 2012 Chefredakteur des Handelsblatts.
Torsten Riecke ist Journalist und Ressortleiter Meinung und Analyse des Handelsblatts.

Gibt es einen Ausweg aus der Krise der abendländischen Kultur?

Im Gespräch mit Slavoj Žižek [ 30 ]
    LE MONDE: Erstmals in der Geschichte des Abendlandes ist die Zukunft in eine Krise geraten. Und die neuen Generationen glauben nicht, daß sie besser als die vorangehenden leben werden. Desinteresse an der Politik, Wirtschaftskrise und Rückzug auf die Herkunftsidentität: Wie läßt sich der Augenblick charakterisieren, den wir gerade durchleben? Und kann man von einer Krise der Kultur sprechen?
    SLOTERDIJK: Was meinen wir denn, wenn wir den Begriff der »abendländischen Kultur« verwenden, in der wir seit dem 17. Jahrhundert leben? Meines Erachtens sprechen wir von einer Form der Welt, die auf der Vorstellung vom Ende des Zeitalters des Vergangenheitskults aufbaut. Die Vorrangstellung der Vergangenheit wurde zerstört; der abendländische Mensch hat eine unerhörte Lebensform erfunden, die in der Vorwegnahme der Zukunft begründet ist. Das bedeutet, daß wir in einer Welt leben, die sich immer stärker »futurisiert«. Ich glaube also, daß der tiefe Sinn unseres »In-der-Welt-Seins« dem Futurismus innewohnt, daß dieser der Grundzug unserer Existenzweise ist. Die Vorrangstellung der Zukunft stammt aus der Epoche, in der das Abendland mit Beginn der Renaissance jene neue Kunsterfunden hat, Versprechen zu machen, nämlich ab dem Zeitpunkt, als Kredite in das Leben der Europäer eingedrungen sind. In der Antike und im Mittelalter spielten Kredite nahezu überhaupt keine Rolle, weil sie in den Händen der Wucherer lagen, die von der Kirche verdammt wurden. Der Wucher versperrte unmittelbar die Zukunft dessen, der einen Kredit zurückzahlen mußte. Wohingegen die modernen Kredite, die Kredite mit moderaten Zinsen, eine Zukunft eröffnen. Zum ersten Mal können die Versprechen der Rückzahlung erfüllt oder gehalten werden. Die Krise der Kultur besteht in folgendem: Wir sind in eine Epoche eingetreten, in der die Fähigkeit eines Kredits, eine tragfähige Zukunft zu eröffnen, immer mehr blockiert wird, weil man heute Kredite aufnimmt, um andere Kredite zurückzuzahlen. Mit anderen Worten, der »Kreditismus« ist in eine finale Krise eingetreten. Man hat so viele Schulden angehäuft, daß das Versprechen der Rückzahlung, auf dem die Vertrauenswürdigkeit unserer Weltkonstruktion beruht, nicht mehr gehalten werden kann. Die Ernsthaftigkeit des Versprechens verschwindet im Nebel. Fragen Sie einen Amerikaner, wie er sich die Rückzahlung der Schulden vorstellt, die von der amerikanischen Bundesregierung angehäuft wurden. Seine Antwort wird gewiß lauten: »Das weiß niemand.« Und ich glaube, daß dieses Nicht-Wissen der harte Kern unserer Krise ist. Niemand auf dieser Erde weiß, wie die Kollektivschuld zurückgezahlt werden soll. Die Zukunft unserer Kultur stößt auf eine Mauer aus Schulden.
    ŽIŽEK: Ich stimme der Vorstellung einer Krise des »Futurismus« und der Logik von Krediten völlig zu. Nehmen wir doch die sogenannte »Subprime«-Wirtschaftskrise von 2008: Jedermann weiß, daß es unmöglich ist, diese Hypothekenkredite zurückzuzahlen, aber jeder verhält sich so, als ob er dazu in der Lage wäre. In meinem psychoanalytischen Jargon bezeichne ich das als fetischistische Verleugnung: »Ich weiß zwar, daß das unmöglich ist, aber ich werde es trotzdem

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