Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
versuchen …«. Man weiß sehr wohl, daß man das nicht kann, aber in der Praxishandelt man so, als ob man es doch könnte. Ich würde jedoch den Begriff »Zukunft« zur Bezeichnung dessen verwenden, was Peter Sloterdijk »Kreditismus« nennt. Der Begriff »Zukunft« scheint mir übrigens offener zu sein. Die Formel »no future« ist pessimistisch, aber das Wort »Zukunft« ist optimistischer. Und ich versuche hier nicht, den Marxschen Kommunismus wiederzubeleben, der in der Tat einem maßlosen Kreditismus ähnelt. Um unsere wirtschaftliche und politische, ideologische und geistige Situation zu charakterisieren, kann ich nur an eine wahrscheinlich apokryphe Geschichte erinnern. Es geht dabei um den Austausch von Telegrammen zwischen dem deutschen und österreichischen Generalstab während des Ersten Weltkriegs. Die Deutschen hatten den Österreichern ein Telegramm mit dem Inhalt geschickt: »Bei uns ist die Lage an der Front zwar ernst, aber nicht katastrophal.« Und die Österreicher hatten geantwortet: »Bei uns ist die Lage zwar katastrophal, aber nicht ernst«! Und gerade das ist das Katastrophale: Man kann seine Schulden nicht bezahlen, aber in gewisser Weise nimmt man das nicht ernst. Über diese Schuldenmauer hinaus nähert sich die gegenwärtige Epoche einer Art von »Nullpunkt«. Erstens zwingt uns die gewaltige ökologische Krise, auf diesem politisch-ökonomischen Gleis nicht weiterzufahren. Zweitens ist der Kapitalismus, wie das Bild Chinas zeigt, künftig nicht mehr auf natürliche Weise mit der parlamentarischen Demokratie verknüpft. Drittens zwingt uns die biogenetische Revolution, eine andere Biopolitik zu finden. Was die gesellschaftlichen Spaltungen in der ganzen Welt betrifft, so schaffen sie die Bedingungen für beispiellose Eruptionen und Aufstände des Volkes …
LE MONDE: Multikultureller Kapitalismus oder gemeinschaftlicher Individualismus, globaler Nationalismus oder globalisiertes Nomadentum: das Scheitern Europas, der Rückzug auf die Herkunftsidentitäten, auch das Kollektive steckt in einer Krise. Wie läßt sich heute dem »Gemeinschaftlichen« ein neuer Sinn abgewinnen?
ŽIŽEK: Selbst wenn wir den naiven Kommunitarismus, die Homogenisierung der Kulturen ebenso wie jenen Multikulturalismus ablehnen müssen, der zur Ideologie des neuen Geistes des Kapitalismus geworden ist, müssen wir doch die Kulturen und die einzelnen Individuen in einen Dialog miteinander treten lassen. Auf der Ebene der Einzelpersonen brauchen wir eine neue Logik der Diskretion, der Distanz oder gar des Nicht-Wissens. Da nun das Zusammenleben auf engem Raum total geworden ist, handelt es sich hier um ein lebensnotwendiges Bedürfnis, um einen entscheidenden Punkt. Auf der kollektiven Ebene müssen wir in der Tat eine andere Weise finden, das Gemeinschaftliche zu artikulieren. Nun ist jedoch der Multikulturalismus eine völlig falsche Antwort auf das Problem, und zwar einerseits weil er eine Art von uneingestandenem Rassismus ist, der zwar die Identität des anderen respektiert, ihn aber in seinen Partikularismus einsperrt. Es handelt sich um eine Art von Neokolonialismus, der in Umkehrung zum klassischen Kolonialismus die Gemeinschaften zwar »achtet«, aber vom Standpunkt seiner Haltung der Universalität. Andererseits ist die multikulturelle Toleranz ein Lockvogel, der die öffentliche Auseinandersetzung entpolitisiert und die sozialen Fragen auf Rassenfragen, die ökonomischen Fragen auf ethnische Erwägungen verweist. Diese Haltung der postmodernen Linken hat auch viel Weltfremdes an sich. So kann beispielsweise der Buddhismus einem extremen Militarismus dienen und ihn legitimieren: In den Jahren zwischen 1930 und 1940 hat die gesamte Institution des Zenbuddhismus nicht nur die Herrschaft des japanischen Imperialismus unterstützt, sondern sogar legitimiert. Ich verwende gerne das Wort »Kommunismus«, vor allem zur Provokation der edlen Seelen, denn meine Fragestellungen betreffen eigentlich die »gemeinschaftlichen« Güter, wie z. B. die Biogenetik und die Ökologie.
SLOTERDIJK: Wir müssen die wahrhafte Problematik unserer Epoche wiederfinden. Die Erinnerung an den Kommunismus und an die große tragische Erfahrung der Politik des 20. Jahrhunderts gemahnt uns daran, daß es keine dogmatische und automatische ideologische Lösung gibt. Das Problem des 21. Jahrhunderts ist das der Koexistenz innerhalb einer » Menschheit«, die zu einer physischen Realität geworden ist . Es geht nicht mehr um den
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