Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
symbolischer Anlehnung an die Arbeiterbewegung. Was kann das bewirken?
Sloterdijk: Wenn man einen metaphorischen Unternehmerbegriff benutzt, dann ist eine Unternehmerbewegung sehr sinnvoll. Heute würde ich es anders ausdrücken: Wir suchen einen Aufbruch, bei dem jeder Steuerzahler künftig als Sponsor angesprochen wird. Erst dann ist das Gemeinwesen psychopolitisch auf dem richtigen Weg. Jeder, der den Fiskus füllt, hat ein Recht auf den Sponsorentitel. Das Sponsoring weist ohnehin schon eine interessante Analogie zum Verhältnis zwischen Steuerzahler und Steuerstaat auf, weil es ja vom Gedanken der Gegenleistung getragen ist. Und so muß es in einer Demokratie auch zwischen Fiskus und Bürger sein. Meine Ideen wurden seinerzeit meistens als Plädoyer für universellen mäzenatischen Hochmut interpretiert. Es geht aber um etwas völlig anderes, nämlich darum, daß wir ein universales Sponsoringbewußtsein entwickeln sollen, wonach jeder, der etwas zur Gemeinwesenkasse beiträgt, als Geber Anerkennung finden soll. Die Währung Anerkennung ist das psychopolitische Fluidum, das bei somonströsen Großgesellschaften als einziges halbwegs zuverlässiges Medium für demokratische Kohärenz übrigbleibt.
Steingart/Riecke: Wie sieht das genau aus?
Sloterdijk: Wir haben 3000 Jahre Hochkultur hinter uns, in der die Kohärenz der vielen praktisch immer mit phobokratischen Mitteln hergestellt wurde: mit Angstherrschaft, sogar in den Kirchen. Die großen Strukturen wurden durch die Furcht des Herrn integriert und mit den Mechanismen der paranoischen Integration verfestigt, bei der man gemeinsame Feinde konstruiert. Das alles scheint bei uns weitgehend überwunden zu sein. In Gesellschaften heutigen Typs, die zum großen Teil ja Sorgen- und Unterhaltungsgemeinschaften sind, ist die soziale Kohärenz mit rein phobokratischen Methoden nicht mehr zu leisten. Mit Drohungen kommt man nicht mehr weit. So gesehen sind die Deutschen doch ein liebenswertes Volk. Seit drei, vier Jahren werden sie täglich von den Klimatheoretikern und von den Steuer- oder Finanzalarmisten mit Horror bedroht. Was machen sie seit drei, vier Jahren an Weihnachten? Sie liefern Beweise dafür, daß man sie in puncto Lebensgefühl nicht mehr ins Bockshorn jagen kann. Sie brechen einen Konsumrekord nach dem anderen. Darin stecken weitreichende Informationen.
Steingart/Riecke: Offenbar gibt es gesellschaftliche Tendenzen zur Immunisierung gegen den Alarmismus.
Sloterdijk: Ihr Beruf wird auch schwerer, nicht wahr?
Steingart/Riecke: Aber wir Journalisten arbeiten auch auf dem Feld der Sinnsuche. Die Leser einer Zeitung suchen ja nicht nur die Erschütterung, sondern sie suchen auch die Orientierung. Insofern spüren wir alle in dieser Krise steigende Auflagen und mehr Zugriffe auf die Webseiten, weil die Leute auf der Suche nach Orientierung sind und Herr Ackermann sie allein erkennbar nicht geben kann.
Sloterdijk: Wir haben eine Zeit vor uns, in der der Experimentalcharakter aller Politik allgemein bewußt wird. Auch der Experimentalcharakter von ökonomischen Entscheidungenhöchster Stufe wird immer mehr Leuten evident. Das ist sehr aufwühlend, denn es sollte Dinge geben, mit denen man nicht experimentiert. Das sagt der Papst auch. Aber der fängt mehr bei Sex und Familie an.
Steingart/Riecke: Sie denken an den Staat und die Spielregeln der Gesellschaft?
Sloterdijk: Richtig. Manchmal denke ich: Wenn Montesquieu wiederkäme, müßte er sich dann nicht sagen: Ich habe die Gewaltenteilung gar nicht richtig verstanden. Ich habe nur die Judikative, die Legislative und die Exekutive genannt, aber die Spekulative habe ich nicht bemerkt.
Steingart/Riecke: Habermas sucht die gesellschaftspsychologische Ebene erst gar nicht, sondern sagt: Entzieht doch diese Dinge dem Nationalstaat. Wir brauchen neue europäische Institutionen. Er betätigt sich als Neukonstrukteur einer zusätzlichen überstaatlichen Ebene, die unsere Probleme in diesem eher auch vordemokratischen Raum mit neuen Institutionen lösen soll. Er baut sich da ein neues Europa. Was halten Sie davon?
Sloterdijk: Offensichtlich hat Habermas über einige Voraussetzungen seiner Thesen nicht richtig nachgedacht. Die Grundrichtung seiner Überlegungen ist ja plausibel und gar nicht unsympathisch. Aber die Basisanalyse fehlt, denn was er nicht sieht, ist die Tatsache, daß die Nationalstaaten heute nicht nur aufgrund ihrer Trägheit, ihrer Traditionen und ihrer kulturellen Merkmale weiter existieren. Sie
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