Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
man als Übungen beschreiben kann, welche eine Persönlichkeitsstruktur ausbilden. Was ich als Hauptgegenstand der Philosophie und der Psychologie bezeichne, ist der Träger einer Reihe von Übungen, die die Persönlichkeit bilden. Und einige dieser Übungsreihen, die die Persönlichkeit formen, können als religiöse beschrieben werden. Aber was bedeutet das? Man macht geistige Bewegungen, um mit einem unsichtbaren Partner zu kommunizieren. Das sind absolut konkrete Dinge, die man beschreiben kann. Darin gibt es nichts Mysteriöses. Ich glaube, daß bis auf weiteres der Begriff »System von Übungen« tausendmal operativer ist als der Begriff »Religion«, der auf die Staatsbigotterie der Römer verweist. Man darf nicht vergessen, daß die Verwendung der Begriffe »Religion«, »Frömmigkeit« oder »Glaubenstreue« bei den Römern den Attributen vorbehalten waren, die den römischen Legionen zugeordnet wurden, welche im Rheintal und überall sonst stationiert waren. Das größte Privileg einer Legion bestand darin, die Attribute »pia fidelis« zugesprochen zu bekommen, denn die brachte eine besondere Loyalität gegenüber dem Kaiser in Rom zum Ausdruck. Ich glaube, daß die Europäer ganz einfach vergessen haben, was »religio« bedeutet. Wörtlich meint das Wort »Sorgfalt«. Cicero hat seine korrekte Etymologie angegeben: lesen, legere, religere, d. h. aufmerksam das Protokoll zu studieren, um die Kommunikation mit den höheren Wesen zu regeln. Es handelt sich also um eine bestimmte Art von Sorgfalt, oder in meiner Terminologie, umeinen Trainingscode. Aus diesem Grund glaube ich, daß »die Rückkehr des Religiösen« nur dann wirksam wäre, wenn es zu Praktiken intensivierter Übungen führen würde. Dagegen sind unsere »neuen Religiösen« die meiste Zeit nur faule Träumer. Doch im 20. Jahrhundert hat der Sport in der abendländischen Kultur die Oberhand gewonnen. Nicht die Religion ist zurückgekehrt, sondern der Sport ist wiedererschienen, nachdem er fast 1500 Jahre vergessen war. Nicht der Fideismus, sondern der Athletismus stand im Vordergrund. Pierre de Coubertin wollte an der Wende zum 20. Jahrhundert eine Religion des Muskels schaffen. Als Religionsgründer ist er zwar gescheitert, aber als Schöpfer eines neuen Systems von Übungen hat er triumphiert.
ŽIŽEK: Die Betrachtung der Religion als eine Gesamtheit körperlicher Praktiken gab es schon bei den russischen Avantgarden. Der sowjetische Regisseur Sergej Eisenstein (1898-1948) hat einen sehr schönen Text über den Jesuiten Ignatius von Loyola (1491-1556) geschrieben, dem es darum gegangen sei, Gott zu vergessen, oder der zumindest jemand war, der bestimmte geistige Übungen begründet hat. Meine These von der Rückkehr zum Christentum ist sehr paradox: Ich glaube, daß man sich nur über das Christentum wirklich als Atheist fühlen kann. Wenn Sie die großen Atheismen des 20. Jahrhunderts betrachten, so handelt es sich in Wirklichkeit um eine ganz andere Logik, nämlich um einen theologischen »Kreditismus«. Der dänische Physiker Niels Bohr (1885-1962), einer der Begründer der Quantenmechanik, wurde von einem Freund auf seiner Datscha besucht. Aber dieser zögerte, durch die Tür seines Hauses zu treten wegen eines Hufeisens, das dort angenagelt war – in Mitteleuropa ist das eine abergläubische Sitte, um die bösen Geister am Eintreten zu hindern. Und der Freund sagt zu Bohr: »Du bist ein Wissenschaftler ersten Ranges, wie kannst du nur einem solchen volkstümlichen Aberglauben anhängen?« »Ich glaube doch gar nicht daran!« antwortete Niels Bohr. »Aber warum läßt du denn dann dieses Hufeisen dort?« insistierte derFreund. Und Niels Bohr gab folgende sehr schöne Antwort: »Jemand hat mir gesagt, daß das funktioniert, auch wenn man nicht daran glaubt!« Das wäre ein recht gutes Bild unserer gegenwärtigen Ideologie. Ich glaube, daß der Tod Christi am Kreuz den Tod Gottes bedeutet und daß er nicht mehr der Große Andere ist, der die Fäden in der Hand hält. Die einzige Möglichkeit, nach dem Tod Christi gläubig zu sein, besteht darin, an kollektiven egalitären Bindungen teilzuhaben. Das Christentum läßt sich als eine Religion der Begleitung der herrschenden Ordnung verstehen oder aber als eine Religion, die »Nein« sagt und hilft, ihr zu widerstehen. Ich glaube, daß das Christentum und der Marxismus gemeinsam die Brandung der neuen Spiritualitäten sowie das kapitalistische Herdenverhalten bekämpfen müssen. Ich vertrete
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