Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
eine Religion ohne Gott, einen Kommunismus ohne Herrn.
SLOTERDIJK: Angenommen, wir befänden uns in der Schlußsitzung des Konzils von Nikäa und einer der Erzbischöfe stellt während der Versammlung die Frage: Sollen wir unseren Bruder Slavoj Žižek auf den Index setzen? Ich glaube, daß die große Mehrheit für den Kirchenbann votieren würde, denn er begeht das, was die Alten eine »Häresie« nannten. Slavoj Žižek nimmt eine selektive Einstellung gegenüber der ganzen Wahrheit ein: Häresie bedeutet Selektion. Und die Selektion in diesem konkreten Fall besteht darin, die Folge der biblischen Geschichte auszulassen, die von der Wiedergeburt nach dem Tode Christi spricht. Aber wenn man die Wiedergeburt ausläßt, vergißt man die Hauptsache, weil die Botschaft des Christentums ist, daß uns der Tod nicht mehr bedroht. Der weltweite Erfolg des Christentums beruhte nicht nur auf der Botschaft der universellen Liebe, sondern vor allem auf der Neutralisierung der Bedrohungen, die der Tod auf jedem Gewissen lasten ließ. Ohne die heidnische Phobokratie auszulassen: Alle Reiche sind auf der Macht der Angst gegründet. Man kann die Geschichte zwar so erzählen, wie Slavoj Žižek es getan hat, aber man muß eine zweite befreiende Dimension hinzufügen: ohne Bruch mitder Phobokratie gibt es keine Freiheit, weder eine christliche noch eine atheistische. Sonst tauscht man nur den Herrn aus; Jupiter oder Christus, das macht keinerlei Unterschied, solange die beiden Gottheiten phobokratische Mächte bleiben. Unglücklicherweise ist das Christentum zur schrecklichsten Phobokratie der ganzen Religionsgeschichte geworden, und zwar vor allem durch Augustinus, der mit seiner Theorie der Prädestination einen wahrhaften Angstreaktor geschaffen hat, den die Philosophie der Aufklärung zum Glück abstellte. Selbst im Abenteuer des Kommunismus hat die christliche Phobokratie in Gestalt des Staatsterrorismus fortgedauert! Und das ist noch nicht abgeschlossen. Die muslimische Phobokratie ist nicht bereit aufzuhören. Für alle diejenigen, die einen Ausweg aus der Welt der Konzentrationslager der klassischen Phobokraten suchen, muß man die emanzipatorische Dimension eines aufgeklärten Christentums rekonstruieren. Und ich akzeptiere gerne eine atheistische Rekonstruktion, unter der Bedingung, daß die Betonung auf die Tilgung des phobokratischen Elements des antiken Heidentums gelegt wird.
LE MONDE: Der gegenwärtige geschichtliche Augenblick, den wir durchlaufen, scheint vom Zorn gekennzeichnet zu sein. Die Empörung findet ihren Höhepunkt in der Losung »Verschwinde!« der arabischen Revolutionen oder der demokratischen Proteste in Spanien. Wenn man nun Slavoj Žižek glauben möchte, dann sind Sie, Peter Sloterdijk, gegenüber den sozialen Bewegungen, die Ihrer Meinung nach aus dem Ressentiment entspringen, zu streng.
SLOTERDIJK: Zwischen Zorn und Ressentiment muß man unterscheiden. Meiner Meinung nach gibt es ein ganzes Spektrum von Emotionen, die zum Bereich des thymos gehören, d. h. zum Bereich des Stolzes. Es gibt eine Art von fundamentalem, irreduziblem Stolz, der sich am tiefsten Grund unseres Seins befindet. Auf diesem thymotischen Spektrum kommt die Jovialität zum Ausdruck, eine wohlwollende Betrachtung all dessen, was existiert. Hier kennt das psychische Feld keineTrübung. Wenn man auf der Leiter der Werte etwas hinabsteigt, kommt man zum Selbststolz . Wenn man noch weiter hinabsteigt, kommt man zur Demütigung dieses Stolzes, die den Zorn hervorruft. Wenn der Zorn sich nicht ausdrücken kann und zum Abwarten verdammt ist, um sich später einmal und anderswo auszudrücken, dann führt das zum Ressentiment und so weiter bis zum zerstörerischen Haß, der das Objekt, von dem die Demütigung ausging, wirklich vernichten will. Vergessen wir nicht, daß nach Aristoteles der gute Zorn diejenige Empfindung ist, die das Verlangen nach Gerechtigkeit begleitet. Eine Gerechtigkeit, die keinen Zorn kennt, bleibt eine ohnmächtige Regung. Die sozialistischen Strömungen des 19. und 20. Jahrhunderts haben Sammelstellen des kollektiven Zorns geschaffen: Das war zweifellos etwas sehr Richtiges und sehr wichtig. Aber tragischerweise sind zu viele Individuen und auch zu viele Organisationen der traditionellen Linken in das Ressentiment abgeglitten. Daraus ergibt sich die Dringlichkeit, eine neue Linke jenseits des Ressentiments zu denken und sich vorzustellen.
ŽIŽEK: Was das Bewußtsein im Ressentiment befriedigt, hat mehr damit
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