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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Wir glaubten, daß diese Sache mit den Sonnenkönigen erledigt gewesen wäre. Aber merkwürdigerweise multipliziert das 21. Jahrhundert diese Machtmenschen zehntausendfach, die sich einbilden, daß alle Objekte ihrer Begierde von ihrer Ausstrahlung durchdrungen werden können.
    ŽIŽEK: Der einzig interessante Aspekt der DSK -Affäre ist das Gerücht, dem zufolge seine Freunde an die Familie des Opfers, die sich angeblich in Guinea aufhält, herangetreten sind und eine exorbitante Summe Geld anboten, wenn Nafissatou Diallo ihre Klage zurückzöge. Wenn das stimmt, was für ein Dilemma! Soll man sich für die Würde oder für das Geld entscheiden, das das Leben einer Familie retten kann, indem man ihr die Möglichkeit eines Lebens im Wohlstand gibt? Das würde die wirkliche moralische Perversion unserer Zeit auf den Punkt bringen.
    Das Gespräch führte Nicolas Truong.
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    [ 30 ] Dieses Gespräch zwischen Peter Sloterdijk und Slavoj Žižek erschien unter dem Titel »Coment sortir del la crise de la civilisation occidentale?« in Le Monde (27. Mai 2011), . Übersetzt von Jürgen Schröder.
Slavoj Žižek ist ein aus Slowenien stammender Philosoph, Kulturkritiker und Interpret.

Schicksalsfragen:
Ein Roman vom Denken

Im Gespräch mit Ulrich Raulff [ 31 ]
    I . Karlsruher Gespräch
    Raulff: Herr Sloterdijk, vor einiger Zeit las ich in der FAZ einen Bericht von Ihrem Podiumsgespräch mit Heiner Geißler, das Sie aus Anlaß seines 80. Geburtstags Anfang März 2010 in Berlin geführt haben. Demnach brachten Sie den Begriff »Schicksal« zweimal ins Spiel – das ließ mich aufhorchen. Zum einen sollen Sie gesagt haben, das Luhmannsche Konzept von der »Ausdifferenzierung« der Subsysteme sei der kühlste aller möglichen Hinweise auf die Macht des Schicksals: Komplexe soziale Systeme folgten unausweichlich der Gesetzmäßigkeit selbstbezüglichen Funktionierens. Zum anderen führten Sie das Argument ins Feld, das Engagement des Westens in Afghanistan liefere den Beweis dafür, daß auch die moderne Welt dem Tragischen nicht entgeht. In diesem Kontext fiel ebenfalls das Wort »Schicksal«. Was ist damit gesagt? Inwiefern reden Sie von etwas anderem als von militärischem Versagen oder von einem Mangel an politischer Strategie?
    Sloterdijk: Afghanistan diente in meinem Argument als aktuelles Exempel für die Gesamtheit der Situationen, in denen Menschen, was immer sie tun, zum Fehlermachen verurteiltsind. Auch den Modernen zwingt sich die Erfahrung auf, daß wir in manchen Momenten nur zwischen Fehlern, Unglücken, Fatalitäten wählen, weil es in ihnen das einfachhin richtige Verhalten nicht gibt. Im Blick auf die Lage in Afghanistan hatte ich das bei dem Gespräch mit Heiner Geißler so erläutert, daß den westlichen Politikern zur Stunde nur die Wahl zwischen zwei Übeln offensteht: Bleiben die westlichen Truppen im Land, befremden die Verantwortlichen ihre eigenen Bevölkerungen, weil diese nach all den Jahren noch immer nicht so recht begreifen, was ihre Männer dort zu suchen haben. Es werden ständig tote Soldaten repatriiert, einen militärischen Erfolg kann man aber nicht erkennen – wachsende Unpopularität dieser Politik ist die Folge. Geht man hingegen aus Afghanistan heraus, überläßt man das Land Kräften, denen man Schlimmstes für ihr eigenes Volk und die Mitwelt zutrauen muß. Kurzum, man hat nur die Wahl zwischen zwei Übeln. In einem solchen Kontext darf man, wie mir scheint, den Begriff des Tragischen wiederverwenden, jenseits der alltagssprachlichen Bedeutung. Interessanterweise bezeichnet die gewöhnliche Rede heute mehr oder weniger alles, was man früher fatal genannt hätte, als tragisch, vor allem den tödlichen Unfall. Der Unfall ist für uns der Statthalter des Tragischen bzw. des Fatalen – beide Begriffe drücken aus, wie die Menschen heute nicht anders als seit jeher in manchen Momenten von dem Gefühl überwältigt werden, daß das Furchtbare an der Macht ist. Unfälle und Katastrophen sind opportunistische Größen, die sich von Zeit zu Zeit ihre Souveränität bestätigen lassen, indem sie wie blind zuschlagen. Dann sind die Menschen ihrer Fassungslosigkeit ausgeliefert, obschon sie sich als moderne Subjekte gern einbildeten, sie hätten sich technisch und politisch gegen das Unglück abgedichtet. All die Kompetenzapparate, die wir gegen die Schläge des

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