Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
zu tun, daß man dem anderen schadet und das Hindernis zerstört, als daß man selbst von sich profitiert. Wir Slowenen sind von Natur aus so. Sie kennen die Legende, wo ein Engel einem Bauern erscheint und ihn fragt: »Willst du, daß ich dir eine Kuh gebe? Aber aufgepaßt, ich werde auch deinem Nachbarn zwei Kühe geben!« Und der slowenische Bauer sagt: »Natürlich nicht!« Aber für mich ist das Ressentiment nie wirklich die Haltung der Armen. Eher die Haltung des armen Herrn, wie Nietzsche es sehr gut analysiert hat. Es ist die Moral der »Sklaven«. Bloß hat er sich etwas im Hinblick auf den gesellschaftlichen Standpunkt geirrt: Es handelt sich nicht um den wirklichen Sklaven, sondern um den Sklaven, der wie der Figaro von Beaumarchais den Herrn ersetzen will. Im Kapitalismus gibt es, glaube ich, eine sehr spezifische Kombination zwischen dem thymotischen und dem erotischen Aspekt. Diekapitalistische Erotik ist nämlich im Vergleich zu einer schlechten Thymotik, die Ressentiments erzeugt, völlig mediatisiert: »Ich möchte das haben, aber nicht für mich, sondern damit der andere es nicht bekommt.« Ich stimme mit Peter Sloterdijk überein: Im Grunde besteht die größte Schwierigkeit in der Frage, wie man den Akt des Gebens jenseits des Tauschs und jenseits des Ressentiments begrifflich fassen soll. Und da bin ich eher pessimistisch. Die Leute sind korrumpiert, man kann sie nicht ändern. Manchmal ist das möglich, je nach den Umständen. Sie kennen die Formel des Totalitarismus: »Sie lieben die Menschheit im Abstrakten, aber Sie hassen die konkreten Menschen.« Nun, hier bin ich totalitär, ich liebe zwar die Menschheit, finde jedoch die konkreten Menschen oft schwach, boshaft, feige. Ich beklage durch und durch diese ganze menschliche Dummheit. Nur glaube ich nicht wirklich an die Wirksamkeit jener geistigen Übungen, die Peter Sloterdijk vorschlägt. Dafür bin ich zu pessimistisch. Diesen Praktiken der Selbstdisziplin wie bei den Sportlern möchte ich eine gesellschaftliche Heterotopie hinzufügen. Deshalb habe ich das Schlußkapitel von Vivre la fin des temps geschrieben, wo ich schemenhaft einen utopischen Raum des Kommunismus sehe, indem ich mich auf Werke beziehe, die das sicht- und hörbar machen, was man eine kollektive Intimität nennen könnte. Ich lasse mich auch von bestimmten utopischen Science-Fiction-Filmen anregen, in denen es umherirrende Helden und neurotische Typen gibt, die wirkliche Kollektive bilden. Auch individuelle Lebensverläufe können uns Orientierung geben. So vergißt man häufig, daß Viktor Krawtschenko (1905-1966), der sowjetische Würdenträger, der schon sehr früh die Schrecken des Stalinismus in Ich wählte die Freiheit anprangerte und der auf schändliche Weise von den prosowjetischen Intellektuellen angegriffen wurde, ein Folgebuch schrieb mit dem Titel Ich wählte die Gerechtigkeit , während er in Bolivien für den Aufbau eines gerechteren landwirtschaftlichen Produktionssystems kämpfte. Man muß den neuen Krawtschenkos, die heutzutage überall auftauchen,von Südamerika bis zu den Küsten des Mittelmeers, folgen und sie ermutigen.
SLOTERDIJK: Ich glaube, daß Sie ein Opfer der psychopolitischen Evolution der Oststaaten sind. In Rußland beispielsweise trägt jeder ein ganzes Jahrhundert politischer und persönlicher Katastrophen auf seinen Schultern. Den Völkern des Ostens haftet die Tragödie des Kommunismus an, und sie können sich nicht davon lösen. All das bildet eine Spirale der autogenen Verzweiflung. Ich bin zwar von Natur aus Pessimist, aber das Leben hat meinen ursprünglichen Pessimismus widerlegt. Also bin ich sozusagen ein Optimist auf dem zweiten Bildungsweg. Und hier meine ich, stehen wir einander recht nahe, weil wir in einem gewissen Sinne von radikal verschiedenen Startpunkten aus parallele Biographien durchlaufen haben, wobei wir dieselben Bücher lasen.
LE MONDE: Nur noch eine abschließende Bemerkung zur Affäre um Dominique Strauss-Kahn. Handelt es sich dabei um eine einfache moralische Verfehlung oder um ein Symptom eines bedeutenderen Unbehagens?
SLOTERDIJK: Es läßt sich nicht von der Hand weisen, daß es sich um eine weltumspannende Affäre handelt, die über ein einfaches Tagesereignis hinausgeht. Vielleicht ist Dominique Strauss-Kahn unschuldig. Aber diese Geschichte offenbart, daß die übertriebene Macht eines Individuums eine Art von Religion der Mächtigen erzeugen kann, die ich als sexuellen Pantheismus bezeichnen würde.
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