Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Schicksals aufgebaut haben, scheinen mit einem Mal wirkungslos, und die Menschen sinken von einem Augenblick zum anderen in einen Zustand quasi archaischer Hilflosigkeit zurück. Mit dem Wort »Hilflosigkeit« rühren wir an den antiken Ausgangspunkt der Aufklärung: Denn Aufklärung, wie sie in der antiken Sophistik erstmals Gestalt annahm, ist primär eine Prophylaxe der Hilflosigkeit. In der griechischen Sophistik gab es einen Begriff, der bedauerlicherweise im Wortschatz der zeitgenössischen Philosophie kaum noch Berücksichtigung findet, obschon er den wichtigsten Gedanken der antiken Ethik ausdrückt: den Begriff der amechanía , der gewöhnlich mit Ohnmacht übersetzt wird. Wörtlich genommen bezeichnet er das Fehlen der mechané , also der List, des Kunstgriffs oder der Maschine, mittels welcher man sich bei existentiellen Schwierigkeiten aus der Affäre ziehen könnte …
Raulff: … die Eingriffsvereitelung sozusagen …
Sloterdijk: Genau, weil amechanía die Situation benennt, in welcher der Mensch um das gebracht ist, was ihn aus griechischer Sicht erst ganz zum Menschen macht, nämlich die Fähigkeit zur Riposte gegen Angriffe, die Ausstattung mit Handlungsoptionen oder, um zeitgenössisch zu reden, der Vollbesitz seiner agency. Sobald der Mensch in der amechanía versinkt, gerät er in den Zustand, der schlechterdings nicht menschengemäß scheint. In diesem Punkt dachte die alte Sophistik tiefer als die Akademie. Für sie ist es der Sinn sämtlicher Ertüchtigungen, der geistigen wie der körperlichen, sich vom Pol der amechanía abzustoßen, damit der Mensch ein Könner werde, ein Könner des Daseins im allgemeinen und ein Wesen, das die richtigen Worte findet, im besonderen. Wenn immer von paideia die Rede war, und später von Bildung, hatte man den Ausgangspunkt dieser Konzepte in einem ganz elementaren Begriff von existentiellem Können mitzudenken. Das Erbe der Sophistik floß in die stoische Ethik ein, die den Menschen als das nie ohnmächtige Wesen herausarbeiten wollte. Dieser Ethik liegt das Postulat zugrunde, Menschen sollten immer etwas tun können, sogar in den Situationen, in denen man nichts mehr tun kann, und wenn es bloß das Bewahren von Haltung wäre.
Raulff: Das beschreibt also eine Ebene, die tiefer liegt als die Unmündigkeit, um deren Aufhebung es unserer bekanntenAufklärung geht. Ohnmacht bezeichnet eine Schicht darunter, die völlige Handlungsunfähigkeit …
Sloterdijk: Tatsächlich geht Ohnmacht über gewöhnliche Unmündigkeit um eine Dimension hinaus. In unserer Auffassung von Unmündigkeit klingt ja die Vorstellung mit, daß der Unmündige einen Vormund braucht, der seinerseits über Mittel verfügt, der Ohnmacht zu entgehen. Das Ideal der Beziehung zwischen Mündel und Vormund wäre naturgemäß, das erstere in den Zustand der Selbständigkeit zu befördern. Ein solches Bündnis ist schon in der antiken Verwerfung der amechanía vorgezeichnet. Es liegt auch der anfänglichen Beziehung zwischen Lehrer und Schüler zugrunde. Schon bei den Griechen wird der Mensch entworfen als ein Wesen, das sich zu helfen wissen soll. Die alten Sophisten sind um die Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Menschen nicht verlegen: Für sie ist der Mensch jenes Geschöpf, das unter allen Umständen von einem unverwüstlichen Ich-kann gesteuert wird. Ein solches Lebewesen, das mit Aristoteles die Sprache hat und mit der Sophistik die Kunst der Riposte und der Improvisation, setzt den äußeren Mächten sein Können entgegen – so wie der Steuermann mit seiner Erfahrung dem Sturm trotzt. Es ist kein Zufall, daß auch Platon, der in nächster Nähe zur Sophistik denkt, obschon in polemischer Spannung gegen sie, gerne Beispiele wählt, in denen Menschen als Experten präsentiert werden. Etwa als Architekt, der weiß, wie man ein Haus errichtet, damit man sein Leben nicht im schrecklichen Zustand der Unbehaustheit verbringen muß, oder als Steuermann, kybernetes , der dafür sorgt, daß wir auch bei schwerer See ans Ziel kommen. Kurzum, die Anti-Amechanía-Gesinnung läuft durch die gesamte griechische Aufklärung und mündet in die stoische Haltungslehre. Wenn man die entsprechenden Briefe Senecas nachliest, wird man feststellen, daß er einen höchst ausgeprägten Sinn fürs Philosophieren angesichts des Ernstfalls besaß. Ernstfälle sind Situationen, in denen der Rückfall in die Ohnmacht fast unvermeidlich scheint. Das Ernstfallbewußtsein des römischen Stoikers zur Zeit des Kaisers
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