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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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verschiedenen Ausmaßes, verschiedener Temporalität. Daneben erwähnten Sie die amechanía , die Situation der Ohnmacht, bei welcher überhaupt kein Handeln mehr möglich ist. Schließlich haben Sie auf das Unglück oder den Unfall hingewiesen, der plötzlich einschlägt und die normale Konfiguration des Lebens zerstört. Es scheint, es gibt ein regelrechtes Repertoire von Situationen, die unser Wissen vom Schicksalhaften oder Tragischen ausmachen.
    Sloterdijk: Solche Grundsituationen und das latente oder manifeste Bewußtsein von ihnen gehören in das dramaturgische Marschgepäck der Menschheit. Diese Ausrüstung für den Umgang mit dem Fatum haben zuerst die antiken Dichter und Denker zusammengestellt, sei es in Form von theatralischen Vorführungen, sei es in Form von Mythen und Spruchsammlungen, schließlich auch in den ersten Ausprägungen von Philosophie. Mit diesem Proviant hatten die Menschen der beginnenden Hochkulturen ihre Lebensreise zu bestreiten. Die diversen Weisheitsgattungen laufen stets in einem Punkt zusammen: Sämtliche Versionen antiker Schicksalsberatung konvergieren in der Mahnung, der Mensch dürfe niemals der Hybris erliegen. Wer sich von der Überheblichkeit verlocken läßt, wer sich in seiner dicken Haut, in seiner Eigenmächtigkeit, in seiner phallischen Frechheit allzu sicher fühlt, der beschwört Unheil auf sein Haupt herab. Dies bringt erneut die Zuschauerproblematik ins Spiel, denn wenn die Götter sich im allgemeinen als unbetroffene, ewig lächelnde Zuschauer des Welttheaters verhalten, so gibt es doch eine Szene, die sie nichtmit ansehen, ohne ins Spiel einzugreifen, und das ist das Schauspiel der menschlichen Hybris. Wo die sich rührt, halten die Götter nicht ruhig, sie intervenieren und vernichten die Übermütigen. Die Götter haben das Pathos der Distanz erfunden, sie schätzen es nicht, wenn Menschen ihnen zu ähnlich werden wollen. Andererseits bietet Bescheidenheit keine hinreichende Sicherung gegen das Unheilvolle. Von Epikur ist der Ausspruch bekannt: »Gegen das meiste können die Menschen Vorsorge treffen, doch angesichts des Todes leben wir alle in einer Stadt ohne Mauer.« Das Sterblichkeitsbewußtsein der Alten ging davon aus, daß Mauerlosigkeit das letzte Wort über die conditio humana bedeutet. Beim Tod hört das Können auf, das Müssen kommt zum Zuge. Und in dem Wort »Müssen« steckt die ungeheure Schwerkraft der unbesiegbaren Naturgesetze, wie sie von den Alten erfahren wurde. Der Tod und die Notwendigkeit, dieses Paar war in der Ontologie der Alten unzertrennlich. Vor diesem Hintergrund versteht man die Enormität des philosophischen Einschnitts, der mit der Sterbeszene des Sokrates gesetzt wurde. Hier beginnt der außerordentliche Gedanke seinen Siegeszug, wonach sogar der Tod etwas sei, was vom Müssen ins Können übersetzt werden solle – griechisch nach dem Vorbild des Sokrates, römisch nach dem Muster der Gladiatoren, die sich ohne eine Miene zu verziehen den Todesstoß versetzen lassen. Diese Idee sickert schon in der mittleren Antike in das Leben der Privatleute ein und wird in der Spätantike epidemisch. Man soll auf keinen Fall, vom Schlag getroffen, sang- und klanglos vom Sofa fallen, vielmehr möge man dem Tod gegenübertreten wie ein Athlet seinem Gegner. Der philosophische Todesathletizismus ist bald auch in die frühchristliche Märtyrerszene eingedrungen und hat später in der Mönchskultur des Mittelalters heftige Blüten getrieben. Man findet in der Biographie des Thomas von Celano über den heiligen Franziskus eine Passage, worin berichtet wird, dieser habe, als er das Ende nahen fühlte, ein Ringkämpferritual aufgeführt: Er entkleidete sich vollständig – eine gewagte Geste, weil seine Mitbrüder bis dahin keine Gelegenheit gehabt hatten zu verifizieren, ob er auch die Seitenwunde Christi besaß –, und legte sich auf den Boden, um in dieser Stellung wie ein antiker Kämpfer in der Palästra den letzten Ringkampf mit dem Widersacher zu führen. Der Verfasser der Vita verwendet an dieser Stelle die formelhafte Wendung: »nudus cum nudo«, ein Nackter mit einem Nackten, im vollen Bewußtsein dessen, daß der lateinische nudus , griechisch: gymnos , der Nackte, bei den antiken Vorgängern der Mönche kein anderer war als der eingeölte Ringkämpfer. Franziskus zitiert in seiner Sterbepantomime den griechischen Habitus des Gymnasten, des Nacktkämpfers, der sich auf den Agon vorbereitet. Wir müssen das als einen Hinweis lesen, daß

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