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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Großwetterlage, in der das Schicksal wieder die Bühne betreten kann. Tatsächlich, sobald Geschichte und Schicksal fusionieren – zunächst in gemäßigt aufklärerischer Absicht –, ist der Moment für einen Fatalismus zweiter Ordnung gekommen. Für den einzelnen bedeutet das, daß er sicher sein darf, das Richtige zu tun, sobald er sein endliches Leben in die Mitte des endlosen Geschichtsstroms hineingestellt denkt. Dann begreift er sich selbst als Werkzeug der historischen Bewegung und als Juniorpartner eines überlegenen sinnhaften Geschehens. Diese Metaphysik der Kooperation mit dem globalen Werden lieferte im 19. und 20. Jahrhundert ein Denk- und Empfindungsmuster, das bei Revolutionären,Reformisten, Therapeuten und Künstlern enorme Kräfte freigesetzt hat, schöpferische wie kriminelle. Aber so wie das Konzept der Natur sich mit der Zeit eintrübte, ist auch das der Geschichte im Lauf der Zeit stark nachgedunkelt. Zwar spürte jeder Zeitgenosse des 20. Jahrhunderts unwillkürlich, daß es ja irgendwie mit der Welt weitergeht, aber an der Sinnhaftigkeit der Bewegung kamen Zweifel auf. Zuletzt wird das große Undsoweiter von vielen nur noch wie ein Mahlstrom, ein Sog in den Abgrund empfunden. Das ist der Moment, in dem der Schicksalsbegriff mit frühantiker Färbung wiederkehren kann – analog zu jener griechischen moira bzw. der ananke , von der es in frühen dunklen Andeutungen hieß, sie sei älter und mächtiger als die olympischen Götter.
    Raulff: Aber er kehrt bei den Modernen vielfach auch als ein Name für eine ereignishafte Tat wieder, mit der ein großer einzelner sich den blinden Mächten entringt. Schicksal heißt jetzt der plötzliche Schlag ins verhängnisvolle Gewebe, der folgenreiche Akt … Das Stichwort hierfür heißt »Plötzlichkeit«. Mit einem Mal ist das alte Gespinst zerrissen. Nietzsche: »Ich bin ein Schicksal …«
    Sloterdijk: Wenn ich die ewige Wiederkehr doziere, muß ich erklären, »warum ich ein Verhängnis bin« …
    Raulff: Oder dann bei den Theoretikern der Dezision: Für sie heißt Schicksal der jähe Akt, der das Gewebe des Gewesenen zerreißt.
    Sloterdijk: Der Dezisionismus und die Philosophie der Tat sind in meinen Augen Zersetzungsprodukte des klassischen aufklärerischen Historismus. Für die Dezisionisten gibt es einen virulenten Rest von menschlichem Geschichtemachen, in Form von fatalem Epochemachen. Das geschieht mittels plötzlicher Entscheidungen, mit denen der große Handelnde sich aufschwingt, um auf der Welle des Weltlaufs zu reiten. An dieser Stelle kommt die von Nietzsche aufgebrachte Unterscheidung zwischen dem aktiven und dem passiven Nihilismus ins Spiel. Ohne sie kann man vom Gang der Ideen im 20. Jahrhundert kaum etwas begreifen. Der Nihilismus in beiderlei Gestalt ist die unvermeidliche Kehrseite des Historismus. Er muß überhandnehmen, sobald man die klassische Annahme fallenläßt, alle Epochen seien gleich nahe zu Gott. Dann gilt, daß Geschichte das ist, was letztlich zu nichts führt. Hierzu gibt es im Prinzip nur die beiden Stellungnahmen, die Nietzsche mit seiner Unterscheidung von passivem und aktivem Nihilismus porträtiert hat. Zum einen, man lässt sich treiben …
    Raulff: Nirvana …
    Sloterdijk: Nirvana, Spaß, Drogen. Die Drogenwelt ist in diesem Kontext signifikant, weil sie nicht nur das Desinteresse an Geschichte ausdrückt, sondern das Desinteresse am In-der-Welt-Sein als solchem. André Malraux hat in La Condition humaine einen älteren Chinesen geschildert – ich glaube, es war der Vater eines der jungen Revolutionäre, von deren Treiben der Roman erzählt –, der die Wahl getroffen hatte, die Welt in der Unwirklichkeit untergehen zu lassen. Bei der Darstellung des Opiumessers, der früher Soziologe an der Pekinger Universität war, bringt Malraux eine extreme Ironie zum Klingen, weil in den Augen dieser Figur sogar das vermeintlich Ernsthafteste, was Menschen auf der Weltbühne von damals unternehmen konnten, die Revolution, in der globalen Bedeutungslosigkeit verschwimmt. Was für eine furchtbare Welt, dieses China der späten 20er Jahre, durch die Optik des französischen Romanciers gesehen: Die Väter verträumen ihr Leben im Opiumrausch, während sich die Söhne im Morden für die Zukunft zu verwirklichen meinen. Malraux hat die Figur des Mannes auf dem Opiumlager eindeutig nur vor dem Hintergrund von Nietzsches Theorie des passiven Nihilismus präsentieren können. Zugleich verdeutlicht er die Haltlosigkeit des

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