Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
lange Prozeß der überangestrengten Subjektivität, der ungefähr mit der Geschichte des neueren Denkens identisch ist. Wir verdanken Odo Marquard die klassische Darstellung der Komplikationen, in die sich das neue scheinbar eigenmächtig geschichtemachende Subjekt der Aufklärung bei seinem Ausgriff in die große Politik verstricken mußte. Die Aufklärer machten unfreiwillig die Erfahrung, wie ihr Fortschrittsoptimismus, ihr Überschwang des Projektemachens, ihr Elan der Geschichtsplanung in grenzenlose Überlastungen des menschlichen Ich mündeten. Sie mußten erkennen, daß die Geschichte das Feld ist, auf dem es anders kommt, als man denkt. Von da an braucht man Entschuldigungen – Marquard nannte dies die Kunst, es nicht gewesen zu sein. Mit den Entschuldigungen bekommen auch die Ausreden Konjunktur, normalerweise in Form von Erklärungen des eigenen Mißerfolgs durch den Widerstand der von nun an so genannten Reaktion. Dies alles war fürs erste kein Grund zur Verzweiflung, aber ein Motiv zur Besinnung. Die Entdeckung der Nicht-Linearität des Fortschritts gab Anlaß zu einer Reflexion über das Verhältnis der menschlichen Energien zu den nicht-menschlichen Triebkräften, die die Welt bewegen. Soviel war klar: Aufgrund seiner evident gewordenen relativen Schwäche mußte das post-titanische Ich sich mit der Frage auseinandersetzen, wie denn übermenschliche Alliierte zu finden wären, die ihm bei seinen überschwenglichen Vorhaben zur Seite stünden. Von Anfang an kamen nur zwei Partner in Betracht, mit denen man das Bündnis zur Verwirklichung des opus magnum schließen konnte – die Natur und die Geschichte. Folglich schwelgt das Denken der Spät- und Nachaufklärung in Allianzphantasien in beiden Richtungen, es deliriert über Bündnisse mit der Natur auf der einen und mit der Geschichte auf der anderen Seite. Wer die Allianz mit der Natur sucht, wird Romantiker: Was das Subjekt aus eigenen Stücken nicht zu leisten vermag, kann eine wohlmeinende alliierte Natur an seiner Stelle und in seinem Sinne voranbringen. Das ist ein Motiv, das seit zweihundert Jahren das europäische Denken mitbestimmt. Hier dreht sich alles darum, wie die Natur als Künstlerin, als Heilerin, als Quelle des Reichtums und als Schellingscher Drang zum Licht mit den menschlichen Interessen kooperiert. Im 20. Jahrhundert war es Ernst Bloch, der diese Position am pathetischsten weitergedacht hat. Aus dieser Sicht besitzt die Natur a priori eine Art Zweidrittel-Mehrheit bei allen Unternehmen unseres guten Willens, und wenn wir ihre vorwärtstreibenden Momente in der richtigen Weise wirksam werden lassen, müßte es mit dem Teufel zugehen, wenn das Projekt der Aufklärung nicht ans Ziel käme. Ich will anmerken, daß dieser heitere Begriff der Allianz-Natur sich von der Mitte des 19. Jahrhunderts an eintrübt. Dann kommen dunklere Momente obenauf, und unerfreuliche Motive wie: Natur als Konkurrenzkampf, als abgründige Grausamkeit, als absichtslose Gärung blinder Kraft und dergleichen treten in den Vordergrund.Schopenhauers und Darwins Impulse wirkten in die gleiche Richtung. Zuletzt ist die Natur als Bündnisgröße der Aufklärung weitgehend verloren. Man starrt ins Herz der Finsternis und murmelt: »the horror, the horror«. Folglich entsteht der Anschein, als könnten nur Antinaturalismen noch weiter führen. Dann heißt es »vorwärts zur Kultur« statt »zurück zur Natur«. Auf der anderen Seite hat der schwache Mensch nach dem relativen Fehlschlag der Revolutionen die »Geschichte« als starken Bündnispartner vor Augen, die Geschichte mit Großbuchstaben und im erhabenen Singular. Sie ist die Göttin, die weiß, worauf es mit der Welt hinauswill. Macht sie bei der Aufklärung mit, dann darf man sich ihrem Zug durch die Zeiten und Räume vertrauensvoll anschließen. In diesem Begriff von Geschichte klingen ältere Bedeutungen nach, von der pronoia der Stoiker über die providentia der christlichen Heilslehre bis zu den philosophischen Prozeß-Mythen der Neoplatoniker, deren Echo noch bei Comenius, Hegel und Schelling zu hören ist. Auch in dieser Allianz kann das schwache humane Subjekt sich mit einem starken Träger verbünden, der die Macht des Seins auf seiner Seite hat. Dieser bewirkt von sich her, was bloßes Planen und Werkeln menschlicherseits nicht herbeizwingen könnte. Für unser Thema ist dieser Aspekt naturgemäß der interessantere, denn mit der Hypostasierung der Geschichte entsteht die kulturelle
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