Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
die griechische und römische Übersetzung des animalischen Müssens ins menschliche Können hinsichtlich der letzten Dinge das Innerste des christlichen Monastizismus erobert hatte. Noch in extremis soll bei diesen Virtuosen des Glaubens ein Element von Können und Standhalten im Spiel sein – nicht umsonst hatten die Mönche sich schon in den frühen Klöstern des byzantinischen Christentums als die Athleten Christi bezeichnet. Der Widerstand gegen die amechanía macht sich auch hier ganz ausdrücklich bemerkbar. Dabei mag mitgewirkt haben, daß der gekreuzigte Christus selbst einen athletischen Topos geschaffen hatte, sofern man der Redaktion der Ereignisse von Golgatha durch Johannes folgt. Bei Jesus war das Hängen am Kreuz nicht nur als eine simple Exekution zu denken, sondern mehr noch als Erfüllung einer Aufgabe.
Raulff: Und als Aushalten einer Prüfung.
Sloterdijk: Einer Prüfung im Sinne des römischen Theaters der Grausamkeit. Bei Johannes, dem Griechen, geht die Athletisierung Christi so weit, daß er ihm als letzten Ausspruch ein Agonistenwort in den Mund legt, tetélestai , was Luther mit »Es ist vollbracht!« übersetzt. Eigentlich sollte es heißen: »Es ist geschafft!« Auf englisch ergäbe das »mission accomplished«. In dem Wort fallen die Erfüllung der prophetischen Voraussage und die Erfüllung des höchsten Pensums heroischer Passivität in eins. Damit wird Christus zu einem Herakles, der zu seinen Taten, den heroischen ponoi , eine neue hinzufügt, die größte von allen. Ohne diese Aufladung mit agonaler Leidenskunst ist das Christentum, vor allem in seiner mittelalterlichen Ausprägung, nicht zu denken. Gelegentlich wurde die Aufhebung des Sterbenmüssens ins Sterbenkönnen bis zum Sterbenwollen potenziert, namentlich in der Mystik des späten Mittelalters, die sich darum bemühte, die extreme Könnensform des Passivseins auszubilden, bis hin zum Nichts-Sein-Wollen. Der Mystiker ist jener, der ruhig hält, wenn Gott an die Stelle des Ich tritt. Er ist ein Athlet des Ausgelöschtwerdens. Bei ihm ist die Abschaffung des Schicksals ans Ziel gekommen, lange vor jeder Aufklärung.
Raulff: Finden Sie Spuren davon in der modernen Philosophie wieder – sagen wir in der Philosophie der letzten hundert, hundertfünfzig Jahre?
Sloterdijk: Sie sind sicher vorhanden, wenn auch marginal. Denken Sie an Schopenhauer und die Folgen.
Raulff: Und doch ist es bezeichnend für die Moderne, daß in ihr der Schicksalsbegriff zurückkehrte, ja sogar wieder eine große Rolle spielen sollte. Bei Lucian Hölscher habe ich jüngst zufällig gelesen, um die Mitte des 19. Jahrhunderts habe ein großer religiöser Kältestrom das abendländische Denken erfaßt, und mit diesem habe der Wiederaufstieg des Schicksalsbegriffs begonnen.
Sloterdijk: Das ist wahrscheinlich gut gesehen. Das 18. Jahrhundert hatte über das Schicksal scheinbar schon endgültig den Stab gebrochen. Damals trat der Prozeß der Aufklärung in seine heiße Phase, das Denken in Schicksalsbegriffen wirkte ein für alle Mal erledigt. Die Aufklärung meinte zu wissen, Menschen haben keine Schicksale, sie machen Geschichte. Schon Leibniz hatte die Nase gerümpft über das, was er »destin à la turque« nannte.
Raulff: Türkenfatalismus …
Sloterdijk: Bis zu Schopenhauer blieb der verächtliche Ausdruck in Umlauf. Er beschreibt Menschen in ontologischer Sklaverei, die nicht auf die eigenen Beine kommen, weil sie sich Schicksalsmächten unterordnen. Wer so denkt, lernt den aufrechten Gang nicht, an dem den Aufklärern so viel liegt. Der Fatalist bleibt außerstande, die Kräfte zu entdecken, die von eigenen Unternehmungen freigesetzt werden. Für die europäische Aufklärung steht fest, daß die Emanzipation des Menschen nur durch Antifatalismus in Gang kommt. Alle Aufklärung ist ein Unternehmen zur »Sabotage des Schicksals« – um ein Bonmot von Ulrich Sonnemann zu zitieren. Diese Formulierung ist aufschlußreich, weil sie von Sabotage spricht, als gliche das Schicksal im 20. Jahrhundert einem von Reaktionären betriebenen Kraftwerk, an dem der Revolutionär eine Bombe anbringt. Für Antifatalisten von Voltaire bis Kant ist der Begriff des Schicksals unphilosophisch, er darf im Vokabular der Weltweisheit nicht mehr verwendet werden. Das starke Ich der Aufklärung will künftig ohne Schicksal auskommen, es will die Heteronomie der Ereignisketten durchbrechen, um zuletzt das Schicksal in selbstgemachte Geschichte aufzuheben. Damit beginnt der
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