Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Nero orientiert sich an der extremsten Situation, in die die Menschen seiner Zeit geraten konnten, an der Lage des Gladiators in der Arena, der den finalen Schlag seines siegreichen Gegners erwartet. Bei Seneca hat der Kampf auf Leben und Tod in der Arena die Seefahrt als Ernstfall-Muster abgelöst. In der Arena steht der verlierende Kämpfer der todgebenden Instanz direkt gegenüber. Nur durch eines kann er seine Widerständigkeit beweisen, nämlich indem er zeigt: Ich habe gelernt, mit Haltung zu fallen. Für einen Darsteller auf der Bühne des Seins gehört es sich, bis zum letzten Augenblick eine gute Figur zu machen. Dieses savoir mourir ist kein sokratisches mehr. Seneca leitet aus der Gladiatorenrolle ein neues Bild der menschlichen Existenz ab: »Sine missione nascimur«, sagt er in einem seiner Briefe, als ob er einen Arena-Fatalismus aus der Taufe heben wollte. Im Colosseum des Lebens muß immer bis zum Tod gekämpft werden. Dazu sollte man wissen, die missio bedeutet das Entlassungszeichen, den gehobenen Daumen, mit dem das Arenapublikum einem tapferen Verlierer das Leben schenken konnte. Bei Kämpfen sine missione war diese Möglichkeit durch das Reglement ausgeschlossen, und die Gladiatoren mußten den Todesstoß ausführen. Wenn Seneca sagt, wir sind »sine missione« geboren, heißt das, wir müssen als Sterbliche immer bis ans Ende gehen. Folglich bleibt für uns aus seiner Sicht nur eines, um unseren Wert, unsere Festigung in der Weisheit zu beweisen, nämlich indem wir stehen bleiben, wo alle anderen schon zu Boden gegangen sind, buchstäblich und im übertragenen Sinn. Das Aufrechtstehen wird zum letzten Beweis für die Nicht-Ohnmacht, die wir, die tapferen Gladiatoren des Kosmos, anstreben sollen. Man könnte so weit gehen, den Begriff der Substanz mit der aufrechten Position des stoischen Finalisten in Verbindung zu bringen. Hätte Heidegger die lateinische Philosophie nicht verachtet, wäre aus ihr für seine Gestell-Theorie einiges zu holen gewesen.
Raulff: Aber was bedeutet in dieser Situation dann dasSchicksal? Ist es die Lebenssituation überhaupt, wonach wir ständig in einem Kampf »sine missione« stehen, oder gilt der Ausdruck nur für die finale Konstellation?
Sloterdijk: Das Schicksal ist beides, die Serie der Prüfungen und das Endspiel. Die Macht des Schicksals zeigt sich bereits in der Anlage der Arena. Wer in ihr unten in der Sandbahn steht, hat aufgrund der Architektur seine Lage klar vor Augen: völlige Immanenz, ausweglose Geschlossenheit der Szene und auf den Rängen die laszive Menge, die ihr Spektakel haben will. Die Situation ist die Botschaft. Das Gebäude spricht von Fatalität mit Zuschauern. Bin ich Gladiator, erfahre ich dort unten die restlose Exponiertheit meiner Existenz. Die anderen auf den Rängen genießen das Zuschauerprivileg. Sie können sich in der Masse verbergen und behalten den Rücken frei. Der Kämpfer ist jederzeit ringsum sichtbar, er ist hineingehalten ins letzte Risiko, für ihn gibt es keinen Rückzugsort, nirgends kann er sich anlehnen, nirgends erholen. Allenfalls erreicht er einen Aufschub, falls er für diesmal siegreich davongeht, doch wenn er nicht bei den heutigen Spielen fällt, dann bei den nächsten oder übernächsten. Sollte er die Arena aufrecht verlassen, ist er für den folgenden Kampf aufgespart – das ist es, was es heißt, im Aufschub zu leben. Im zweiten Band meiner Sphären gibt es einen Exkurs unter dem Titel »Später sterben im Amphitheater: Über den Aufschub, römisch«, worin ich den Derridaschen Begriff der différance , der zugleich Unterschied und Aufschub bedeutet, auf die Arena-Idee des stoischen Fatalismus bezog. Für die Römer waren die Spiele ein didaktisches Medium, in dem man die Grundwahrheit des Daseins im Imperium vorgeführt bekam. Das Leben kann in einer solchen Zeitlage nichts anderes bedeuten als den Versuch, später zu sterben – später als dein heutiger Kontrahent, so spät wie möglich. Es heißt obendrein, sich beim Sterben nicht verstecken zu können. In der Arena kommt der imperiale Fatalismus zu sich, er betrifft den Pöbel wie den Caesar, den Gladiator wie den Zögling der Philosophie. Das Universum selbst ist die Arena, die missio wirdniemandem gewährt. Angesichts dieser Verhältnisse versucht der Stoiker zeitlebens, sich den Merksatz einzuprägen, er habe die Entlassung aus dem verlorenen Gefecht ohnehin nicht nötig, weil im Grunde doch alle Schicksale gut sind. Wir sind ja als Menschen
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