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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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nichts anderes als lokale Funktionen des Kosmos, jeder Tod erfolgt rechtzeitig und am rechten Ort. Wenn dies etwas übertrieben klingt, sollte man bedenken: Die antike Philosophie ist nicht mehr und nicht weniger als der Versuch, die unermeßliche Unwahrscheinlichkeit dieser kosmisch-harmonistischen Doktrin zu überspielen. Wie in allen großen Glaubenslehren geht es darum, das Unglaubliche zu bekennen, als wäre es das Allergewisseste. In diesem Punkt sind sich die antike praktische Philosophie und das Christentum ganz nahe. Der helle Fatalismus, als Glaube an das Gutbegründete aller Schicksale, diente bei den Alten dazu, das verheerende Dunkle im Leben der Wenigen und der Vielen in Schach zu halten.
    Raulff: Sie haben zu Beginn gesagt, daß der Unfall für uns das Tragische ersetzt. Indem er unter der ästhetischen Optik des Tragischen aufgefaßt wird, erlangt der Unfall eine gewisse Würde, er vertritt das Erhabene auf den Schauplätzen der Alltäglichkeit. Die Situationen, die Sie jetzt unter Verweis auf die antike Philosophie beschrieben haben, weisen immer eine ästhetische Komponente auf. Es gibt jedesmal – das fällt mir beim Schicksalsbegriff generell auf – jemanden, der zusieht, sei es im griechischen Theater, sei es in der römischen Arena. Immer erscheint da ein Beobachter, der mit anschaut, wie der andere mit seinem Pensum fertig wird, wie er es meistert, ob er es stehend auf sich nimmt oder ob er rasch fällt. Wie gehört dieser Betrachter in das Funktionsfeld des Schicksalsbegriffs? Braucht wirklich das Schicksal einen Betrachter, der vom sicheren Ufer aus zusieht, so wie es die Daseinsmetapher vom »Schiffbruch mit Zuschauer« vorzeichnet?
    Sloterdijk: Der Lukrezische Zuschauer am sicheren Ufer nimmt an der allgemeinen Theoretisierung des Lebens teil, die sich in der klassischen Antike vollzieht. Phänomenologiebeginnt als Beobachtung von Verhängnissen. Seit Theorie in der Welt ist, gibt es tatsächlich immer jemanden, der aus relativ gesicherter Position zusieht, wie andere von ihren Schicksalen ereilt werden. Dies gilt an erster Stelle für die leidlosen Zuschauergötter der Alten, die sich dauernd am Weltschauspiel erfreuen, es gilt ebenso für die griechischen Theaterbesucher – um von den römischen Circusbesuchern zu schweigen. Tatsächlich setzt die Theorie mit der Tragödie ein, die ein gutes Stück älter ist als die Philosophie. In ihr lernten die Griechen das Alles-Mitansehen. Die Dramatiker verwenden den expliziten Begriff des Schicksals in ihren Stücken selten, doch sie brauchen den Allgemeinbegriff nicht, weil die tragische Form per se eine Maschine zur Betrachtung von Schicksalen anbietet. Die Bocksgesänge stellen die Dilemmata der Helden zur Schau, indem sie den Zuschauern vorführen, in welchen Zwiespältigkeiten, welchen Fallen und Komplikationen das menschliche Leben zugrunde zu gehen pflegt. Sie benutzen die Schicksalsbetrachtung als kathartischen Mechanismus, ja, sie wollen den Zuschauer der aristotelischen Theorie gemäß durch phobos und eleos läutern, sprich durch Schauder und Jammer oder, wie man früher etwas weniger pathetisch übersetzte, durch »Furcht« und »Mitleid«. Das setzt voraus, daß die Beobachter zunächst keine primär reflektierenden, sondern in erster Linie empathische Zuschauer sind, die sich in den Unglücklichen hineinversetzen, ohne ganz mit ihm zu verschmelzen. Der Ursprung der Tragödie ist ein Mitleidsritual. Im Theater wird die Kollektivseele affektiv synchronisiert, hierdurch werden die einzelnen polisfähig gemacht. Kulturtheoretiker würden sagen, das dionysische Theater war mit seinen alljährlichen Darbietungen ein Apparat zur Stärkung der memoaktiven Fitneß Athens. Man kann zu dieser Zeit ein guter Athener nur sein, wenn man gemeinsam mit den anderen an derselben Stelle des Dramas in Klagelaute ausbricht – ein fernes Echo dieser humanisierenden Parallelisierung der Affekte hört man noch in Goethes »das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil«. Ebenso gibt sich ein zuverlässiges Mitglied der Polis dadurch zu erkennen, daß es in der Komödie an der richtigen Stelle gemeinsam mit den anderen lacht.
    Raulff: Wir haben jetzt bei unseren Erkundigungen nach dem Schicksalsbegriff verschiedene Situationen durchlaufen. Das Beispiel Afghanistan steht für die Verlegenheit des Handelns in einer Situation, in der man zwischen Übeln wählen muß, gleich großen oder verschieden großen, Übeln von ungleicher Geschwindigkeit,

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