Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
revolutionären Kampfs, weil auch dieser hier bloß Nihilismus in Aktion bedeuten konnte. Wie das Opiumessen die Flucht aus der Wirklichkeit impliziert, so das revolutionäre Handeln der Shanghaier Aktivisten von 1927 die Flucht über die Wirklichkeit hinaus. Exemplarisch erscheint das in den beiden stärksten Szenen von La Condition humaine : gleich am Beginn, als der junge Kämpfer Chen in einer Art von aktiver Trance seinen ersten Mord begeht und den Surrealismus des Tötens entdeckt, dann wieder gegen Ende des Romans mit dem Selbstopfer des Kameraden Katov, der die einzige Zyankalikapsel, die notfalls ihm selbst einen schnellen Tod garantieren sollte, an zwei junge chinesische Mitkämpfer verschenkt, damit sie in der Nacht vor der Exekution das leichtere Ende haben. Er selber nimmt es auf sich, am folgenden Morgen von den Soldaten des Koumintang im Heizungskessel einer Lokomotive lebendig verbrannt zu werden. Das zeigt die aktiv nihilistische Ethik an ihrem extremen Pol. Malraux gehört zu den Zeugen des Jahrhunderts, weil er die Identität des kommunistischen Engagements mit dem aktiven Nihilismus früh erfaßt hatte. Im übrigen darf man sich fragen, ob nicht auch Carl Schmitt auf der Linie des aktiven Nihilismus argumentiert, ja, ob sein aufgesetzter Katholizismus nicht nur eine Maske des Nihilismus war, diesmal mit dezisionistischer Bemalung. Gerade, weil alles zu nichts führt, sind in seinen Augen die großen Gestalter berufen, Entscheidungen von fataler Tragweite zu treffen. Wer das Weltende aufschiebt, das dennoch kommen wird, soll freie Hand haben, meint der schreckliche Jurist. Die schmittschen Großtäter haben die Lizenz, übermenschliche Risiken einzugehen – wie Hitler, als er den Zweiten Weltkrieg vom Zaun brach. Im Rückblick haben wir allen Grund zu der Feststellung, daß der aktive Nihilismus mit seiner Pose des Neubeginns aus der jähen Entscheidung und mit seinem Glauben an den Nullpunkt und die große Zäsur summa summarum eine Enttäuschung war, ein autohypnotischer Schwindel. In Wahrheit hat nichts Altes ganz geendet, nichts wirklich Neues hat begonnen. Wer weiterleben will, muß immer am letzten Zustand anschließen und in irgendeiner Richtung weitermachen.
Raulff: Ist es nicht eher so, daß das historische Denken stets zwischen einer zäsurophilen und einer zäsurophoben Haltung schwankt? Allem Anschein nach sind wir aktuell in einerPhase, die die Zäsuren fürchtet. Wobei man wohl, wie Sie richtig sagen, immer beides braucht und zu bedenken hat. Der passive Nihilismus greift um sich, bis der aktivistische Nihilismus dazwischengeht. Der zerschlägt den passiven und verschluckt ihn in einem starken Projekt. Man hat übrigens beobachtet, wie die Denkfigur des Nihilismus noch im Gerichtssaal von Nürnberg zur Erklärung und Entschuldung verbrecherischen Handelns bemüht wurde, etwa bei den Einsatzgruppenprozessen. Um die Angeklagten zu entlasten, wurde der europäische Nihilismus als eine globale Schuldverkettung präsentiert, von der die deutschen Katastrophentaten nur ein Teilausschnitt waren, das schuldhafte Handeln der einzelnen dabei wiederum nur ein mikroskopisches Fragment des fatalen Ganzen. Man muß sich das vorstellen, solche Argumentationsfiguren reichten bis in die Verteidigungsstrategien der Nürnberger Anwälte.
Sloterdijk: Auf diesem Gebiet hat Heidegger leider Besonderes geleistet. Bei ihm erreichen die indirekte Apologetik der Entgleisungen des 20. Jahrhunderts und ihre Überhöhung zu Schicksalsverfügungen einen bedenklichen Höhepunkt.
Raulff: Vorbereitet in der Struktur der Sorge …
Sloterdijk: In Heideggers Frühwerk kündigt sich die Wende zum Denken in Begriffen des »Geschicks« mit der existenzialen Grundstruktur der Sorge an. Dabei sollte man von Anfang an die medialen Denkfiguren beachten: Nicht ich mache mir Sorgen, sondern die geschickte Sorge nimmt mich in ihren Dienst. Im mittleren Werk und im Spätwerk wird der Begriff des Geschicks an das Zivilisationsgeschehen insgesamt angedockt, welches bekanntlich Technik lautet. In dem Zusammenhang hört man dann fatale Sätze wie jene, dass die industrialisierte Landwirtschaft und das massenhafte Herstellen von Toten in Konzentrationslager aus derselben …
Raulff: … Prozeßlogik hervorgehen …
Sloterdijk: … und aus derselben schicksalhaften Vergegenständlichung und Vernutzung aller Dinge durch das Herstellen und Vorstellen entspringen, sprich aus der nicht aufzuhaltenden Raserei der sich ermächtigenden
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