Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Schicksal ist es, für die wirkliche Geschichte zu spät gekommen zu sein.
Raulff: … die Epigonen … Immermann … Alle Taten, die es wert waren, getan zu werden, stehen schon in den Geschichtsbüchern, alle Werke, die es wert waren, geschrieben zu werden, stehen schon in den Bibliotheken.
Sloterdijk: Zugespitzt heißt das, daß schon in Waterloo die Geschichte zum Stillstand gekommen ist. Die erste prägnante Posthistoire-Ära fällt in die Jahre 1815 bis 1818, als Frankreich während der dreijährigen Zeit der Besatzung durch die Sieger von Belle Alliance in eine politische Katatonie verfiel – eine Episode, die aus dem französischen Gedächtnis gelöscht ist, genauer gesagt, die nie in es einging. Mit der bourbonischen Restauration von 1818 bis 1830 gewann das Land den Status der souveränen Nation zurück, doch um den Preis des Stillstands, der politischen und ideologischen Regression und der Zersplitterung in ein Chaos erbittert verfeindeter Parteien. Unter der bourbonischen Erstarrung wurde die posthistorische Stimmung chronisch. Man muß einmal die aufgeblasenen Prunkportraits von Louis XVIII im Lilien-Hermelin gesehen haben, um zu begreifen, wie Posthistoire und Simulation zusammengehören. Die Franzosen haben als erste die Erfahrung gemacht, daß man ganze Epochen fälschen kann. In dieser Zeit konnte man bestenfalls noch Mittelalterromane oder Memoiren jenseits des Grabes schreiben, wie Walter Scott und Chateaubriand, die Großmeister der Ersatzgeschichte und des Ersatzlebens, es vorgemacht haben. Der Hunger nach Schicksal ist aus dieser Konstellation zu begreifen. Mit der posthistorischen Paralyse kommt das Heimweh nach den bewegten Zeiten auf mit all ihrem Blut und ihrem Pomp. Im übrigen gibt in es der jüngeren Literatur über Heidegger und Co. den Topos »Sehnsucht nach Härte und Schwere«, der die heroistische Disposition der jungkonservativen Geister des frühen 20. Jahrhunderts recht gut charakterisiert. Die Formel paßt schon auf das postnapoleonische Zeitalter. Sie bezeichnet das Heimweh nach den Tagen, in denen die Franzosen von Siegesmeldungen lebten. Diese Nostalgie ist bis heute nicht ausgestorben. Unter den aktuellen Politikern ist Dominique de Villepin derjenige, der die episch-heroische Geschichtsauffassung am deutlichsten weiter in sich trägt.
Raulff: Etwa in der Bainville-Tradition, die den Royalismus auf dem Umweg über die Action française ins 20. Jahrhundert transportierte.
Sloterdijk: De Villepin, zugleich Gaullist und lyrischer Bonapartist, hat über die Hundert Tage Napoleons ein ziemlich beachtliches Buch geschrieben, mit nostalgischem großem Atem, ein Buch, das verrät, wie Frankreich aus der Sicht des Autors in seinen besten Tagen einmal war: heroisch und großartig, wenn auch unglücklich im Abschluß. Es läßt ahnen, welche Rolle der Autor in seiner erhabenen Nation gern spielen würde.
Raulff: Typisch französisches geschichtsmythisches Denken, erstaunlich bei einem heutigen Politiker.
Sloterdijk: Es ist ein wenig das Drama des begabten Kindes von rechts, das sich eine Geschichte mit Helmbüschen und klingendem Spiel ausdenkt. Doch auch auf deutschem Boden sind wir mit analogen Übungen vertraut. Hier wie dort geht es bei solchen Übungen darum, nach einer signifikanten militärischen Niederlage, nach einem spürbaren Ende der Geschichte einen beflügelnden Neuanfang zu postulieren. Dieses Schema von Ende und Neubeginn des Weltdramas in Nachkriegszeiten kann man auch am Fall des jungen Heidegger bis ins Detail durchdeklinieren. In der Vorlesung des Wintersemesters 1929/30 über die Grundbegriffe der Metaphysik findetsich die grandiose Langeweile-Abhandlung, in der Heidegger die Welt von 1929 so beschreibt, als sei nun endgültig alles vorbei. Er fragt: »Wie steht es denn eigentlich um uns?« und antwortet: »Es steht um uns so, daß uns im Tiefsten nichts mehr bewegt.« Die eigene Epoche läßt uns leer. Das ist die Freiburger Variante des Theorems vom Ende der Geschichte. Deren Ende zeigt sich in unserer Leere, die das Fernbleiben des Wesentlichen in unserer Existenz beweist. Natürlich führt Heidegger diese Überlegungen nur in strategischer Absicht durch, da er sich von der äußersten Vertiefung der Langeweile den dialektischen Umschlag der Sache in ihr Gegenteil, die höchste Gespanntheit, verspricht. Er will die Wiedergeburt der Geschichte aus dem Geist des Leergelassenseins erzwingen. Heidegger zufolge ist die tiefe Langeweile die philosophischste der
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