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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Stimmungen: In ihr erleben wir die Verlegenheit einer seinsverlassenen Existenz. Im Nichts-mehr-zu-tun-Haben der finalen Langeweile wird das Sein selbst im Modus seiner Absenz erfahren. Sind wir erst einmal ganz von ihr durchdrungen, vernehmen wir, zuerst von ferne, dann zunehmend deutlicher, den wiederkehrenden Ruf des verzeitlichten Seins, das ein neues Kapitel Geschichte in Auftrag gibt: »Das Ereignis braucht dich!« Wer dergleichen hört, steht in der Versuchung, sich der erstbesten lärmenden politischen Bewegung anzuschließen …
    Raulff: … die natürlich den direkten Ausweg aus der Schicksalslosigkeit verspricht.
    Sloterdijk: Natürlich deswegen, weil sie selber mit brachialer Gewalt auf die Bühne springt, um die stillstehende Geschichte wieder in Gang zu bringen. So gesehen hätten es bei Heidegger auch die Kommunisten sein können, deren revolutionärer Historismus gut zu seinem ontohistorischen Ansatz gepaßt hätte. Doch ihr Angebot entsprach nicht Heideggers Profil, das näher beim nationalbolschewistischen Aufbruch, Niekisch und Konsorten, lag. In den Tagen der nationalen Revolution kam der Begriff des Geschicks in seiner massivsten Form wieder zum Tragen. Die große Geschichte, meinte Heidegger zu wissen, wird geschickt, und zwar vom erhabensten Absender, dem Sein. Doch da das schickende Sein sich über das Dasein vermittelt, braucht es Geschickte: Das werden die seltenen Menschen sein, die zugleich ergriffen und entschlossen sein können. Dies kennt man sonst nur von den christlichen Aposteln, die eine unbedingte Botschaft weitertragen. Wenn Ergriffenheit und Entschlossenheit in eins fallen, entsteht ein mediales Handeln, ein gehandeltes Handeln sozusagen, das Geschichte macht, indem es dem Ruf des Seins folgt und diesen in eigenen Rufen verstärkt. Der Form nach gleicht das dem Schema der ewigen Liebesgeschichten zwischen Mensch und Gott. Solche Geschichten fangen regelmäßig mit dem Ergriffenseinwollen des leergelassenen Subjekts an. Wäre man erst einmal richtig ergriffen, denkt der Ungläubige, der glauben möchte, dann dürfte er sich berechtigterweise nach vorn stürzen und wüßte endlich, was zu tun ist. Meine Tat soll mich so ergreifen, daß ich sie tun kann. In Wirklichkeit geht es meistens genau andersherum: Wer schon der Neigung folgt, sich nach vorn zu stürzen, denkt sich die passende Ergriffenheit hinzu.
    Raulff: Der Ergriffene steht also auf beiden Seiten der Relation Passivität – Aktivität. Dadurch vollzieht sich eine enorme Verstärkung, eine Dramatisierung der Existenz. Bei der Ergriffenheit handelt es sich um eine Versunkenheit oder Ergebenheit, die gewesene Bischöfin würde sagen, man liegt noch tiefer in Gottes Hand. Auf der anderen Seite erzeugt die Entschlossenheit eine Aufsteigerung …
    Sloterdijk: Über solche Figuren der medialen Subjektivität denke ich seit Jahren, seit Jahrzehnten nach. Ich komme dabei immer wieder zurück auf einen kurzen luziden Aufsatz mit dem Titel Über den Unterschied zwischen einem Genie und einem Apostel , den Kierkegaard um 1848 im Rahmen seiner Polemiken gegen den dänischen Geistlichen Adler verfaßt hat. Dieser Aufsatz, klein im Umfang, gewaltig in seinen inneren Dimensionen, ist so etwas wie die Magna Charta einer spirituellen Medientheorie. Man sollte ihn alle zwei, drei Jahre wieder lesen, um das analytische Besteck scharf zu halten. Kierkegaard beschreibt auf engsten Raum zwei strikt entgegengesetzte Modi des Kommunizierens, den genialen und den apostolischen. Die geniale Kommunikation beruht auf Selbstausdruck, sie entspricht dem ästhetischen Modus des In-der-Welt-Seins. Wie Kierkegaard sagt, geht sie aus der humoristischen Selbstgenügsamkeit des Genies hervor. Das Genie hat genug getan, wenn es seine inneren Welten in kunstvollen Werken manifestiert, ohne Rücksicht darauf, ob die Mitwelt ihm folgt. Genie braucht keine Autorität. Die Bewunderung des Publikums ersetzt ihm reichlich, was auf der Seite der Wahrheitsmitteilung fehlt. Ganz anders beim Apostel: Dies ist der Mensch mit einer absoluten Teleologie, da er von einem unbedingten Um-zu, einem unausweichlichen Auftrag bewegt wird. Er stellt sich unter einen Anruf von oben und gewinnt Autorität in dem Maß, wie er sich auf diesen Ruf beruft. Hierbei entsteht ein performativer Wirbel: Paulus kann sich immer nur darauf berufen, daß Gott ihn berufen habe, einen äußeren Beweis hierfür kann er naturgemäß nicht beibringen. Er kann es nur im eigenen Sprechakt statuieren:

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