Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Ge-stell-Subjektivität. Man weiß noch immer nicht, was man von solchen Aussagen halten soll. Mit ihnen wird die Möglichkeit, überhaupt an etwas schuldig zu sein, außer Kraft gesetzt. Etwas von ferne Vergleichbares erleben wir durch den neurologischen Hype, dem zur Stunde nichts und niemand widersteht. Mit dem wird ja ein erneuter Versuch gestartet, den Fatalismus als Naturalismus unters Volk zu bringen, diesmal als Neurofatalismus. Die Kunst, es nicht gewesen zu sein, bleibt so aktuell wie zur Zeit der ersten Rückschläge im Projekt der Aufklärung. So gesehen hat Marquard tatsächlich den Schlüssel zum moralischen Ökosystem der Moderne geliefert: In dem Moment, in dem die menschliche Handlungskompetenz explosiv zunimmt, setzt eine Nachfrage nach Unverantwortlichkeit ein. Alle reden von Verantwortung, in Wahrheit haben die meisten ein Interesse daran, die Möglichkeit der Zurechnung von Handlungen zu Tätern zu verwischen.
Raulff: Das ist es, was Marquard als Refatalisierung beschreibt. Insofern hat ein Konzept wie Schicksal, oder was sonst an Äquivalentem geboten wird, natürlich immer auch eine Entlastungsfunktion, nicht nur individuell, sondern auch auf der Ebene der Gattung.
Sloterdijk: Das stärkste Bild für die globale Verlegenheit, derentwegen man Entlastung braucht und sucht, hat Nietzsche geprägt, als er den Menschen als ein Wesen beschrieb, das auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängt. In einer solchen Situation überlegt man es sich zweimal, ob man dem Passagier das Erwachen raten soll. Den Abstieg vom Tigerrücken hat niemand geübt. Nun neigen manche aufklärerische Moralisten zu der Ansicht, es gebe gar keine Tiger, ihnen zufolge stehen wir von Anfang an auf festem Boden, verantwortlich für uns selbst vom Kopf bis zu den Zehen. Für sie gibt es kein dunkles Unten, das uns ermöglicht und gelegentlich verschlingt. Autoren wie Heidegger oder Friedrich Georg Jünger haben dagegen das Monströse ins Zentrum ihrer Überlegungen über die moderne Welt gestellt, der erste mit seiner Theorie des Gestells, die von einem Über-Tiger namens Technik handelt, der zweite in Form einer Meditation über den Titanismus der modernen Zivilisation. Seither hat das Gespräch über das Unheimliche, das den Unternehmungen der Modernen zugrunde liegt, nicht mehr ganz aufgehört. Bei solchen Überlegungen kommen wir uns vor wie Insekten im Panzer eines Drachen. Träumer auf dem Rücken eines Tigers oder Mücken auf den Schuppen eines Ungeheuers, das sind die Bilder, die dem In-der-Welt-Sein nach dem Platzen der Täterillusionen im Gefolge der Französischen Revolution und nach der Implosion der Napoleon-Blase Kontur gegeben haben.
Raulff: Hier wirkt die Refatalisierung nicht bloß entlastend, sondern auch bedrückend.
Sloterdijk: Fürs erste trifft das Stichwort »Entlastung« die Sachlage am besten. Um das zu verstehen, muß man in die Ära zurückgehen, die auf die Französische Revolution und die napoleonischen Kriege folgte. Nach den heroischen Tagen stehen überall Verlierer herum und suchen Ausreden. Da kommt das Schicksal gerade recht. Man hat Napoleon auf die ferne Atlantikinsel verbannt, die Helden sind pensioniert, die Geschichte stagniert, eine starke Nachfrage nach Unverantwortlichkeit liegt in der Luft. Man hat es gut gemeint, es ist anders gekommen. Victor Hugo hat in Les Misérables eine von den traurigen Figuren porträtiert, die aus den Erinnerungen an die großen Tage ein klägliches Geschäft gemacht haben – den Sergeant von Waterloo, einen Veteranen, der davon lebt, zu sagen, er sei dabei gewesen. Die Erinnerungsindustrie setzt ein, die vom entlasteten Leben der Modernen nicht mehr wegzudenken ist: Man nannte das einmal »Beweglichkeit auf stationärer Basis« – noch immer ist dies das profundeste Wort über unsere Seinsweise. Kierkegaard hat in seinem wenig bekannten Essay Eine literarische Anzeige die Erfahrung der Windstille nach dem Tumult, der die Geschichte war, nachdrücklich beschrieben – in diesem Kontext findet man übrigens die erstePublikumsbeschimpfung der modernen Philosophie, von der das Man-Kapitel aus Heideggers Sein und Zeit inspiriert scheint. Kierkegaard entdeckt hier ein Ungeheuer neuer Art, einen Riesen der Charakterlosigkeit, eben das moderne Publikum, mit dessen Formierung die Kunst, es nicht gewesen zu sein, in die bis heute aktuelle Phase eintritt. Publikum ist das, wovon Heidegger später sagen wird: »Jeder ist der andere und keiner er selbst.« Sein
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