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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Paulus, ein Knecht Christi – das muß er endlos wiederholen, und indem er es wiederholt, stellt er seine Existenz unter die Sendung, die ihn mobilisiert und verbraucht. Weil er sich dem absoluten Ziel unterordnet, beansprucht er Vollmacht. Und das ist der Begriff, auf den es ankommt. Mir scheint, die Frage nach der Vollmacht war Heideggers großes Problem bis zuletzt. Er wußte, daß Vollmacht und Schickung irgendwie zusammengehören. Er hegte die Aspiration auf Vollmacht für seine Botschaft, doch suchte er sie außerhalb der christlichen Sukzession, in einer philosophischen Nachfolgereihe, als beruhe auch die Berufung und Berechtigung zu seinem Metier auf einer quasi-apostolischen Kette, die vom Sein selbst inauguriert und aktualisiert wird – andernfalls wäre ja Sein nicht Zeit, das zeitliche Nacheinander von Ideen wäre kein Wahrheitsgeschehen, sondern eine bloße Folge von sich ablösenden Paradigmen. Der griechische Anfang ist fürHeidegger so überragend wichtig, weil in ihm die Sendekette begann – obgleich seit Platon schon die Störsender dominieren. Das Sein als Zeit schickt die Seinen aus, als sollten auch diese hingehen in alle Welt und die Menschen taufen im Namen der Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit. Solche ausgeschickten Menschen existieren in der Ekstase des Botschafterseins, wie vom Sein selbst in Marsch gesetzt. Und als ein absolut in Marsch Gesetzter von Gnaden des verhüllten absoluten Absenders wollte Heidegger gelten.
    Raulff: Er wollte selber ein homme fatal sein.
    Sloterdijk: Tatsächlich war ihm klar, daß er Autorität nur erlangt, wenn er sich bei einem höchsten Absender rückversichert. Das ist der Grund, warum auch er noch fromm ist, und das unterscheidet ihn von den Nihilisten. Die resoluten Nihilisten lassen den Absender hinter sich fallen und erklären sich selber zur force majeure. Ein gnostisierender Geist wie Heidegger, der im Frühwerk protestantisiert, im Spätwerk katholisiert, weiß immer, er muß das Sein hinter sich haben, weil das Sein mit dem Gott des Neuen Testaments die Funktion der absoluten Absendermacht teilt. Die gnostische Note kommt in Heideggers Werk dadurch zum Klingen, daß er die Funktion Gottes nicht im Schöpfertum sieht, sondern im Absendersein. Sein Gott ist nicht der, der Sonne, Mond und Erde geschaffen hat, sondern der, der in die dunkle Welt Hinweise sendet, wie die Rettung zu denken wäre. Das einzige Wissen, das in diesem Ansatz zählt, ist Rettungswissen – und Rettung meint hier Sammlung aus der Zerstreuung. Im übrigen entspricht ein solches Arrangement dem Traum von absoluter Autorschaft: Es spiegelt den Willen, vom Stadium der Talentproben auf die Ebene der Wahrheitsübermittlung überzugehen. Das ist die Autorenphantasie par excellence , die mit bloßer Genialität nicht zu erfüllen ist. Ein deprimiertes Genie kann unendlichen Spaß treiben und sich am Ende doch umbringen. Dem bloßen Genie gelingt die Verwandlung in einen Boten nicht. Ein Bote gehört sich nicht selbst und darf nie von der Fahne gehen.
    Raulff: Sie spielen auf David Foster Wallace an?
    Sloterdijk: Ja, sicher. In seinem Fall war es mit der Kierkegaardschen humoristischen Selbstgenügsamkeit des Genies nicht getan, seine depressive Verfassung kam ihm in die Quere. Was Heidegger betrifft, so war er von solchen Komplikationen Lichtjahre entfernt, weil er sich …
    Raulff: … immer aufgehoben fühlte.
    Sloterdijk: Er war, wie es scheint, fortwährend in etwas Haltgebendem zu Hause.
    Raulff: Er fühlt sich strukturell geborgen, in was auch immer, in der Sprache oder im Seinsgeschick oder in der Landschaft. Es gibt bei ihm ständig die Zuversicht, daß da eine tragende Macht ist.
    Sloterdijk: Ich bilde mir ein, inzwischen auch etwas besser zu wissen, wie das kam. Seit einigen Jahren fahre ich regelmäßig in den Schwarzwald in die Region zwischen Sankt Blasien und Todtnauberg. Eine seltsame Gegend: Wenn man sich über längere Zeit dem Anblick der Bauernhäuser dort aussetzt und ihre Anmutung auf sich wirken läßt, bewegt sich etwas im Inneren des Betrachters. Diese Schwarzwaldhäuser besitzen eine archetypische Aura von Geborgenheit. Man muß sich klarmachen, was es für Menschen, die darin leben, bedeutet, wenn drei Viertel des Hausvolumens auf das Dach entfallen. Das ragt so weit vor, daß es das ganze übrige Gebäude in sich einzuschließen scheint. Gluckenhäuser …
    Raulff: Ein Inbegriff von Behütetsein …
    Sloterdijk: Behütet in der

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