Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Grundstellung läßt sich eine abgeklärteGesamtansicht des Feldes gewinnen. Wir finden uns am Ende der fatalen Parabel: Auf die aufklärerische Außerkraftsetzung des Begriffs und seine irrationalistische Revitalisierung folgt die nachaufklärerische Abklärung.
Raulff: Wobei es natürlich gelegentlich Einspruch gegeben hat. Sie haben ja selber Marquard genannt, der den Begriff benutzt, um gegen den Machbarkeitswahn der technokratischen Aufklärung zu protestieren, und ähnlich tut das ja auch Koselleck.
Sloterdijk: Beide sind aus meiner Sicht schon der Position »Abklärung« zuzuordnen. Der Großmeister auf diesem Feld in jüngerer Zeit war natürlich Niklas Luhmann. Im Blick auf ihn hatte ich mir in dem anfangs erwähnten Gespräch mit Heiner Geißler erlaubt zu behaupten, das tiefste Inkognito des Schicksalbegriffs in der Moderne sei der von Luhmann verwendete Begriff der Ausdifferenzierung von Subsystemen. Vielleicht wären ihm die Haare zu Berge gestanden, dennoch scheint mir, dies war eine sinnvolle Äußerung. Wenn Luhmann von Ausdifferenzierung spricht, klingt das fast so, als habe er ex officio mitgeteilt: »Nicht nur die Bücher haben ihre Schicksale, auch die Systeme.« Das Schicksal der sozialen Systeme ist, daß sie von einem gewissen Grad der Komplexität an sich funktional differenzieren. Man merkt dies unter anderem daran, daß sie für den common sense undurchdringlich werden. Sobald sich ein System ausdifferenziert hat, kann man es nicht mehr mit der Vernunft des Alltags einholen, da es eigengesetzlich und selbstreferentiell geworden ist. Expertenvernunft und Alltagsvernunft entfremden sich voneinander. Der Experte hat die Aufgabe, den Laien zu erklären, dass die Dinge im ausdifferenzierten Subsystem funktionieren, wie sie funktionieren, und daß es nicht anders sein kann, auch und gerade wenn es dem gesunden Verstand absurd erscheint. Man kann die Sachlage auch anders ausdrücken: Bei der Ausdifferenzierung erreichen soziale Systeme die Ebene, auf der den Adressaten der soziologischen Aufklärung zugemutet wird zu verstehen, daß dieGesellschaft keine logische Mitte hat und kein wahres Selbst hervorbringt. Es gibt in der Gesellschaft sozusagen keine Gottesstelle, an der sie ins eigene Innere schauen könnte. Auch Soziologie taugt nur noch etwas in dem Maß, wie sie versteht, daß sie ihren Gegenstand nicht wirklich versteht …
Raulff: Also steht auch Luhmann auf der Seite der Nachaufklärung?
Sloterdijk: Luhmann würde ich nach Koselleck und Marquard als den dritten im Bunde der Abklärer nennen. Gemeinsam ist ihnen die objektive Ironie, mit der sie auf die Resultate des historischen Aktivismus blicken. Abklärung ist immer postoptimistisch.
Raulff: Seinerzeit verkörperte insbesondere Marquard die Position des Einspruchs gegen die sozialtechnologische Ideologie, die noch in den 70er Jahren fröhliche Urstände feierte, das heißt gegen den Glauben an die Machbarkeit und Planbarkeit von allem.
Sloterdijk: Der Schicksalsbegriff war einer Modernisierung bedürftig, seit wir nicht mehr so grobes geschichtsontologisches Geschütz auffahren können wie im 19. Jahrhundert üblich. Die semantischen Gehalte, die im rezyklierten Schicksalsbegriff enthalten sind, können jetzt etwas feiner aufgelöst werden. Um ein Beispiel zu geben für eine Bedeutungsnuance, die man aus dem Komplex der Fatalitätsdiskurse herausgelöst hat, nenne ich den Begriff des Irreversiblen, wie er in der Thermodynamik und in Prozeßtheorien aufgekommen ist. Während die menschliche Geschichte das Reich der zweiten Chancen und des Noch-Einmal darstellt, ist die Sphäre der physikalischen Prozesse durch Unwiederholbarkeit und Unumkehrbarkeit bestimmt. Ein anderes Beispiel bietet der Begriff des Unverfügbaren: In Theologenkreisen hat dieser Ausdruck während der letzten Jahrzehnte eine beachtliche Karriere hingelegt. Mit seiner Hilfe wiederholt man eine Geste, die man seit der Romantik kennt: Subjektallmacht, nein danke! Wer »unverfügbar« sagt, denkt jetzt an die kreatürliche Last im theologischenSinn, die man durch keine Aufklärung, keine technische Entlastung abwälzen kann.
Raulff: Es sind nicht nur Theologen, die so reden. Vergleichbares beobachten wir bei Ästhetikern und Phänomenologen: Gumbrecht mit seiner Wiederbetonung der epiphanischen Präsenz, Karl Heinz Bohrer mit seiner Aufmerksamkeit auf den ästhetischen Augenblick – das sind ebenfalls Figuren von Unverfügbarkeit. Sie handeln von Instanzen, die sich
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