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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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höchsten Potenz, geborgen wie am siebenten Tag der Schöpfung. Manche Häuser sind von einer Schönheit, daß man stehenbleiben möchte und sagen: »Angekommen.«
    Raulff: Die Hut, in die Hut nehmen, hüten, Hüter des Seins … solche Motive spielen beim späten Heidegger die herausragende Rolle.
    Sloterdijk: Ebenso wie das Ge-birg, das Bergen, die Verborgenheit. In diesen einhüllenden Häusern ist das alles unmittelbar gegeben. Selbst wenn man das ganze Jahr über nicht auf den Speicher geht, lebt man mit seiner Präsenz. Er ist der Prototyp des Ge-birgs, unter dem sich ein behütetes Dasein entfaltet. Das wirkt sehr anrührend. Das Haus wird hier zum Wohn-Zeug – und wenn tatsächlich Wohnen und Denken zusammengehören, ist das dortige Haus Denk-Zeug und Welt-Zeug in einem. Durch den Aufenthalt in der Heidegger-Region habe ich Zugänge zu manchen seiner Gedanken gefunden, die man durch die Lektüre unmöglich gewinnen kann. An Heideggers berüchtigter Hütte selbst findet man von alledem übrigens keine Spur, die ja nur ein ärmlicher Unterstand ist, eine grüngestrichene Baracke.
    Raulff: Ich bin nun doch froh, daß wir – auf dem Umweg über die Befindlichkeiten des späten Heidegger – einer positiveren Bestimmung des Begriffs näherkommen. Bisher haben wir das Motiv überwiegend in negativen Modi wie Kompensation, Entlastung, Ausrede, Flucht nach vorn usw. beschrieben. Ich wollte Sie schon die ganze Zeit fragen: Sehen Sie nicht auch eine legitime positive Gebrauchsweise dieses Begriffs? Hat er für Sie auch heute noch ein halbwegs sinnvolles Anwendungsfeld?
    Sloterdijk: Sie meinen immer noch das Schicksal?
    Raulff: Ja, ja, ich bleibe ganz obsessiv dabei …
    Sloterdijk: Nun ja, der Begriff bleibt sinnvoll, wenn auch in engeren Grenzen als bei seiner antiken Anwendung. Die Parzen haben ihre Scheren beiseitegelegt, sie mußten sie vermutlich bei der Handgepäckkontrolle abgeben. Die Moira, die Ananke, das Fatum, das Kismet, das alles können wir nicht reanimieren. Ein umformatierter, schwächerer, bescheidenerer Schicksalsbegriff ist an der Zeit. Wie wir zu ihm kommen, ist kein Geheimnis: Er taucht für uns im dritten Akt des ideengeschichtlichen Dramas auf, das in Europa im 17. Jahrhundert in Gang gekommen war. Wir haben es ja schon angedeutet. Im ersten Akt wurde das Schicksal von der rationalistischen Seinsauslegung verschluckt. Bei Spinoza erscheint die Welt als Gesamtkunstwerk aus Kausalitäten. Damit wird das Fatum in Naturgesetze aufgehoben. Nun kann sich das Schicksal zur Ruhe setzen, weil sowieso alles nach guten Notwendigkeiten geschieht. Die notwendigen und die zureichenden Bedingungen machen die Dinge unter sich aus. Der Fatalismus verschwindet im universalen Kausalismus, später kann er vorübergehend auch im Optimismus der Praxisphilosophie aufgehen. In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne, heißt es in einer klassischen Abmahnung gegen den astrologischen Aberglauben. Das Zeitalter des Selbstbestimmungspathos bricht an, heteronome Schicksalsmächte kann man jetzt schlechterdings nicht mehr brauchen. Doch dabei wird es nicht lange bleiben. Nachdem sich die erste naive Praxiswelle überschlagen hat, setzt die zweite Phase ein. Die Evidenz der alten und neuen Heteronomien zwingt sich uns auf und überflügelt den aufklärerischen Antifatalismus. Neofatalismen übernehmen das Kommando, seit offensichtlich wurde, daß es anders kommt, als man denkt. Die gegenaufklärerischen Tendenzen feiern Revanche. Oswald Spengler meinte geradezu, der tiefere Geist wird sich immer zum Begriff des Schicksals hingezogen fühlen. Selbst die größten Gewächse auf Erden, die Hochkulturen, unterliegen dem Fatum in Form der morphologischen Notwendigkeit. Die Kulturen laufen ab wie Pflanzenleben oder tausendjährige Spieluhren, und unser Leben ist mit ihnen synchronisiert. In dieser Tonart ist ein Gutteil der neueren Schicksalsliteratur verfaßt. Sie verarbeitet das Dunkle in unseren Daseinsbedingungen affirmativ – von Goethes Urworte. Orphisch über Nietzsches amor fati bis zum retour du tragique. Über das letzere Motiv haben in Frankreich Autoren wie Jean-Marie Domenach, von einem katholischen Standort aus, und Michel Maffesoli, vom Standort des postmodernen Pluralismus aus, gesprochen. Seit einer Weile sind wir in die dritte Phase eingetreten, in der wir vom prometheischen Rationalismus der Aufklärung ebenso weit entfernt sind wie von den koketten Irrationalismen der Gegenaufklärung. Aus dieser

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