Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
nicht planen und herstellen lassen, von Augenblicken einer ergreifenden Präsenz, die entweder sich von selbst ergeben oder sich entziehen, ohne daß wir dagegen klagen könnten.
Sloterdijk: Übrigens könnten sich beide, Gumbrecht und Bohrer, auf die stärkste »Schicksal«-Stelle der jüngeren deutschen Poesie berufen. In Rilkes achter Duineser Elegie hört man den Seufzer: »Dieses heißt Schicksal: / gegenüber sein / und nichts als das und immer gegenüber«. Dem folgt am Ende des Gedichts die Frage: »Wer hat uns also umgedreht, daß wir, / was wir auch tun, in jener Haltung sind / von einem, welcher fortgeht?« Die Klage des Dichters bezieht sich darauf, daß für uns Menschen überhaupt, und für uns Individuen der Moderne ganz besonders, anders als für die stillen Tiere, die Welt nicht mehr die reine Offenheit bedeutet. Wir haben den Raum vor uns durch Projekte vollgestellt. Das Schicksal ist hier durch die existentielle Orthopädie des Menschen festgelegt. Die ist so gründlich mißglückt, daß wir für immer die Umgedrehten, die Weggehenden, die Präsenzunfähigen bleiben. Mir scheint, wir begegnen hier dem Schicksalsbegriff in einer sanften, fast unschuldigen Wendung wieder, weil er eine tragische Mitgift der Zivilisation benennt, nicht triumphalisch, auch nicht masochistisch, sondern mit milder Melancholie. Heidegger kennt etwas von ferne Vergleichbares, wenn er über die Irre spricht, die vom menschlichen Aufenthalt in der Welt unabtrennbar sei. Das Irrläufertum nistet im gewöhnlichen Dasein selbst, das immer schon auf einer Art Flucht ist. Heidegger sagt geradezu: Der Mensch ist das Weg – so wie man sagt: Nichts wie weg!
Raulff: Darf ich noch einmal auf den anderen Punkt zurückkommen: Gibt es für Sie eine Möglichkeit, den Schicksalsbegriff in ihre eigene Arbeit zu integrieren? Bei der Entwicklung Ihres Werkes, scheint mir, sind Sie ein paar Mal mit diesem Begriff fast direkt in Berührung geraten, von der Kritik der zynischen Vernunft über den Eurotaoismus bis zu Du mußt dein Leben ändern , aber Sie haben ihn nicht für sich aquiriert, wenn ich so sagen darf, Sie sind an ihm gewissermaßen gerade noch vorbeigekommen. Dennoch möchte ich fragen: Könnte Schicksal ein für Sie positiv interessanter Begriff sein?
Sloterdijk: Ich würde sagen, die interessantesten Begriffe sind Begriffe außer Dienst.
Raulff: Begriffe im Seniorenheim der Begriffsgeschichte?
Sloterdijk: Ihr Rückzug gehört zu ihrem Charme. Wenn sie ausgedient haben, finden alte Begriffe hin und wieder eine Anstellung in leichter Nebentätigkeit. Eben darauf käme es mir bei einer Neuverwendung des Schicksalsbegriffs an. Er müßte viel beiläufiger ins Spiel gebracht werden als zu seinen großen Zeiten, er sollte fast schwerelos werden. Ich denke in diesem Zusammenhang an eine Stelle bei Nietzsche, auf die ich auch sonst häufig zurückkomme, ich meine den Gesang Vor Sonnenaufgang aus dem dritten Teil des Zarathustra . Die Szenerie ist imposant: Wie man es beim Propheten eines neuen Weltalters nicht anders erwarten kann, läuft Zarathustra schon im Morgengrauen übers Gebirge und hält, bevor die Sonne sich sehen läßt, Zwiesprache mit dem Himmel. Hier tauchen die entscheidenden Sätze auf – warten Sie, ich muß die Stelle suchen ( blättert ): »Wahrlich ein Segen ist es und kein Lästern, wenn ich lehre: ›Über allen Dingen steht der Himmel Zufall, der Himmel Unschuld, der Himmel Ohngefähr, der Himmel Übermut.‹ ›Von Ohngefähr‹ – das ist der älteste Adel der Welt.«
Raulff: Das ist sehr schön.
Sloterdijk: »Den gab ich allen Dingen zurück, ich erlöste sie von der Knechtschaft unter dem Zwecke.« An dieser Stelle müßte man unterbrechen und einen Kommentar über denmetaphysischen Gehalt der Formel »Knechtschaft unter dem Zwecke« einschieben – in ihrer stärksten Ausgestaltung war die Schicksalsidee ja keine Improvisation für den Hausgebrauch von Hypochondern an bedeckten Tagen, sie war ein Weltprinzip auf einem hohen ontologischen Thron, sie war das Werk des guten Grundes aller Dinge. Der philosophische Schicksalsbegriff trat am prunkvollsten in Form der spätantiken stoischen Heimarmene in Erscheinung, die so etwas wie die durchgreifende Vernunft der Kosmosregierung bezeichnete – im Mythos war die Heimarmene übrigens als die Tochter der Ananke bekannt. Von solchen Fiktionen einer erhabenen vorherbedachten Notwendigkeit im Lauf aller Dinge stößt Nietzsche sich ab, indem er den Zufall von
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