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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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man muß im richtigen Augenblick zupacken …
    Sloterdijk: Alles kommt auf den Zeitpunkt an, der opportunità heißt, und es kommt auf die Hand an, die die Chance ergreift – womit die Frage nach der Balltechnik aufgeworfen wird. Nur wer bereit ist, den Ball des Zufalls zu fangen, ist überhaupt im Spiel. Von jetzt an hilft es nicht mehr, sich der Neigung zur Weltflucht hinzugeben. Vergessen wir nicht: Den Menschen der Spätantike und des Mittelalters war ja immer die Option vor Augen gestanden, der Welt den Rücken zu kehren. Noch bestand die Möglichkeit, sich in einer entrückten, wenn auch unbequemen Gegenwelt anzusiedeln, in der Schule der Weisen oder der Gemeinschaft der Heiligen, sei es im Sinn einer definitiven Trennung von den weltlichen Dingen, sei es, um von der Gegenwelt aus in die Welt bessernd einzuwirken. Den Modernen bietet sich diese Option nicht mehr in gleicher Weise an, weil sie nicht mehr ganz an ein Dasein in der Gegenwelt glauben können, allenfalls an den Urlaub und die Emigration. Selbst Luther, der weiß Gott in vielem mittelalterlicher war als das Mittelalter, hat in diesem Punkt den modernen Ton getroffen und die Kutte abgelegt. In philosophischer Hinsicht beginnt das moderne Denken mit der These, der Mensch sei von sich aus ein Mikrokosmos, eine Abbreviatur des Weltganzen. Ist man selbst die Welt im Kleinen, macht der Gedanke an Weltflucht keinen Sinn mehr, weil die Welt mich immer begleitet.Wo ich bin, bin ich die Welt ganz und gar. Die Konsequenz davon ist, daß die philosophischen Mentoren der modernen Individuen, die erwähnten literarischen Lebensberater, ihre Klienten zunehmend dazu überreden, das Spiel der Welt mitzuspielen. Hierdurch entsteht ein neuer Fortuna-Diskurs. Er führt zur Neubewertung des menschlichen In-der-Welt-Seins unter dem Aspekt des Mitspielen-Könnens.
    Raulff: Dann wären die Berater gewissermaßen Zuschauer, die ihre Kommentare zu den möglichen Schicksalen ihrer Klienten im voraus abgeben.
    Sloterdijk: Die literarischen Berater geben ihr Votum im voraus ab, die operativen hingegen bieten ihren Rat in situ an. Es ist natürlich kein Zufall, daß im 15. Jahrhundert, zu der Zeit, als sich die eigentliche Fortuna-Dämmerung vollzieht, das Berufsbild des secretario entstanden ist. Dieser trug seinen Namen zu Recht, weil er tatsächlich die Geheimnisse der unternehmerischen modernen Individuen teilte – was wir weitgehend vergessen haben, seit wir Sekretäre und Sekretärinnen als Leute auffassen, die untergeordnete Funktionen im Büro des Chefs ausfüllen. Nur in der Berufsbezeichnung des Staatssekretärs oder des Generalsekretärs klingt die alte hohe Bedeutung nach. Der secretario der Renaissance – Machiavelli war sein stärkstes Exemplar – ist, wenn man so will, die weltliche Ausgabe des grand aumônier , des Fürsten-Beichtvaters, der nach der Einsicht der frühneuzeitlichen Staats-Psychagogen an der Seite jedes Mächtigen zu stehen hatte. Schon damals hatte man begriffen, daß der Mächtige allein gar nicht mächtig sein kann – Schillers Diktum »Der Starke ist am mächtigsten allein« ist von Grund auf falsch. Der Mächtige ist mächtig und wahrt den Schein von Macht nur, solange er von realistischen Ratgebern und effizienten Ministern umgeben ist – und eben von seinem secretario. Dessen erste Aufgabe besteht darin, das Gewissen des Fürsten unverletzt zu halten, weil es die moralische Kraftzentrale des Gemeinwesens darstellt. Ein Fürst, der nicht glaubt, ihm werde vergeben, ist von vornherein verloren. Es warEugen Rosenstock-Huessy, der meines Wissens diesen Gedanken zuerst explizit dargelegt hat. Nach ihm ist die Unverletztheit des Gewissens des Fürsten das eigentliche Staatsgeheimnis. Ein Fürst, der sich für einen Verbrecher hielte, würde das ganze Staatswesen ins Verderben reißen, wenn er an sich verzweifelt – ein schuldiger Fürst jedoch, der auch im Innersten nicht gestehen kann und will, erst recht. Machiavelli hatte begriffen, daß Fürstsein ein Beruf ist, bei dem es ohne das Begehen von Unrechtstaten nicht abgeht. Deswegen braucht der Machthaber eine spirituell kompetente Person an seiner Seite, die mit den Sakramenten der Macht vertraut ist. Sie muß in prekären Situationen über die Unverletztheit des Fürsten-Gewissens wachen – das sind die früher erwähnten Situationen, in denen man nur zwischen Übeln wählen kann. Zumeist wurde dieses Amt von Geistlichen ausgeübt – man denkt in diesem Zusammenhang unwillkürlich an

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