Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Anfang an lernen, die Ballwürfe mit Gleichgültigkeit zu beantworten. Am besten, indem ihr euch in Äquidistanz übt: am guten Glück nicht zu sehr haften und das schlechte Glück nicht zu sehr beklagen.
Raulff: Aber was haben denn die späteren Berater im Sinn,die anfangen, vom Risiko zu reden? Was ist ihr Ziel? Das Risiko durch Wahrscheinlichkeitsrechnungen eingrenzen? Wollen sie selber im Spiel gewinnen? Oder als Versicherer das Schadensrisiko der anderen begrenzen?
Sloterdijk: Es gibt auf diesem Spielfeld verschiedene Typen und Positionen: Die einen spielen um des Spielens willen, die anderen, um zu gewinnen, die Dritten, um bei den Gewinnen der anderen mit zu gewinnen, die Vierten spielen erst gar nicht, um nicht zu verlieren: Das sind jene, die nicht begreifen, daß sie von vornherein verloren haben. Wer nicht gespielt hat, verliert, ohne die Chance gehabt zu haben zu gewinnen. Die vierte Position ist die der ewigen Konservativen bis heute, die meinen, sie können im Weltlauf ihre Haut retten, indem sie den aktuellen Glücksspielen fernbleiben.
Raulff: Von den mittelalterlichen Fortuna-Emblemen – namentlich von der Kugel, auf der die Göttin balanciert – kommt man historisch aufsteigend zu den modernen Techniken der Zufallsbeherrschung, der Risikominimierung, bis hin zur Risikoausschaltung. Geht man von dort aus rückwärts, gelangt man zu den antiken Bildern von der Zuteilung der Schicksalslose.
Sloterdijk: Demnach wäre die Fortuna-Theologie des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit so etwas wie die Mitte zwischen dem dunklen Fatalismus der Griechen vor dem Einsetzen der ersten Aufklärung und der scheinbar restlosen Abschaffung von Risiken in der modernen Bankmathematik – von der wir inzwischen wissen, daß sie als nur groß angelegter Selbst- und Fremdbetrug funktionieren kann. Diese Mittelposition war nicht ohne Komplikationen zu beziehen: Sie war mit der nahezu unlösbaren Schwierigkeit verbunden, die antifatalistische Grundlehre des Christentums – nach der Auferstehung des Herrn gibt es ja keine Herrschaft des Fatums mehr – mit dem Fortbestand der kaum entbehrlichen antiken und volkstümlichen Formeln zur Zufalls- und Schicksalsbewältigung zum Ausgleich zu bringen. Nur deswegen hat ja die Fortuna auch das christliche Mittelalter heimgesucht, in dem sie eigentlich keine Aufenthaltserlaubnis hatte. Das heftigste Symptom der unlösbaren Spannung war die augustinische Prädestinationslehre, in der man rückblickend die Matrix der abendländischen Neurose erkennt. Einerseits hatte Augustinus wie kein anderer begriffen, daß der Glaube ans Fatum mit dem Glauben an den dreieinigen Gott unvereinbar ist – daher wollte er jeden Fatumgedanken im Orkus des überwundenen Aberglaubens versenken. Das Problem jedoch, als dessen Lösung der antike Fatumglaube entwickelt worden war, war damit nicht aus der Welt geschafft – die undurchdringliche Ungleichheit der menschlichen Lebensumstände gibt Christen nicht weniger zu denken als den Menschen der vorchristlichen Antike. Die Denkaufgabe bestand darin, die real existierende Absurdität zu absorbieren, die aufklafft, sobald man zusieht, wie die Menschen von Geburt an mit den krassesten Ungleichheiten ringen. Um damit fertig zu werden, verfiel Augustinus auf eine Lösung, die ihm noch dunkler geriet als der antike Fatalismus jemals gewesen war – die Theorie der göttlichen Vorherbestimmtheit des Menschen zu Heil und Unheil. Um den paganen Fatalismus abzuwehren, stürzt sich der Kirchenvater in das düsterste Abenteuer der Ideengeschichte: Er erfand einen monotheistischen Hyperfatalismus namens Prädestination – was wörtlich die vorausgreifende Schicksalsfestlegung bezeichnet. Zugleich hielt Augustinus an der These der menschlichen Freiheit fest, weil anders der Strafcharakter der Prädestination zur Verdammnis nicht zu verteidigen gewesen wäre. Prädestination wird bei ihm zum Medium einer unbegreiflichen göttlichen Selektivität. Mit dem wählerischen Gott Augustins war nicht zu spaßen. Realistischerweise müssen die allermeisten Menschen damit rechnen, daß sie zu den von vornherein verworfenen Seelen gehören. Dies spiegelt präzise die ideologische Situation der Spätantike wider, in der die Kirche, obschon seit 395 pro forma Staatsreligion, kaum Einfluß auf Leben der Reichsvölker besaß: Die wenigen entschiedenen Christen, die es damals gab, wußten recht gut, daß sie zu einer winzigen Elitegehörten und daß die Pforten des Himmels
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