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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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für die große Mehrheit wahrscheinlich verschlossen bleiben würden. Zwar heißt der christliche Gott der Gnädige, und das Wort Gnade bezeichnet das Ausnahmerecht des Souveräns, aber Gnade für die Vielen oder gar Gnade für alle wären auch bei einem Gott, der Ausnahmen macht, nicht plausibel. Das Verhängnisvolle an der augustinischen Auffassung von Vorherbestimmung bestand nicht in ihrem manifesten Elitismus – Christentum ist elitär oder es ist nicht christlich. Es lag vielmehr in ihrer depressiven Logik, denn mit ihr wurde die Möglichkeit ausgelöscht, durch fromme Bemühung zur eigenen Erlösung etwas beizutragen. Die Frömmigkeit selbst ist ein Resultat der Gnade, nicht ihre Ursache, in diesem Punkt ist Augustinus förmlich. Der Mensch kann keine Verdienste erwerben, Punkt. Es dauerte fast ein Jahrtausend, bis Anselm von Canterbury den Denkfehler Augustins korrigierte. Bei Augustinus bleiben die Menschen auch nach der Erlösungstat Christi metaphysisch im Minus, weil ihre Erbsündigkeit als Unendlichkeit der Schuld gegen Gott selbst nach der Taufe fortbesteht. Das leuchtet zunächst unmittelbar ein: Endliches Verdienst kann unendliche Schuld nicht tilgen, denn wenn man ein endliches Plus gegen ein unendliches Minus aufrechnet, ergibt sich ein unendliches Minus. Der zuständige Lehrsatz der Scholastik heißt: »Inter finitum et infinitum non est proportio«. Kurzum, man kann mit dem Unendlichen keine Geschäfte machen, und Augustinus weiß es besser als irgendwer. Doch hat sich in sein Kalkül ein Fehlschluß eingeschlichen, auf den erst Anselm mit der Satisfaktionstheorie in Cur deus homo indirekt hingewiesen hat. Anselm bringt eine diskrete theologische Mathematik in Stellung, die aus der depressiven Logik des Mittelalters herausführt. Seither dürfen die Theologen anders rechnen: A: Unendliche Schuld haben die Kinder Adams auf sich geladen. B: Die unendliche Schuld wurde durch das unendlich genugtuende Opfer Christi getilgt. Folglich gilt C: Unendliche Schuld plus unendliche Genugtuung ist gleich Null. Der Effekt der veränderten Rechnungist gewaltig: Von nun an machen menschliche Verdienste eine Differenz. Sie können positiv angeschrieben werden, weil sie nicht mehr direkt gegen das unendliche Minus stehen, denn dieses ist definitiv durch die Tat des Gottmenschen ausgeglichen – und dieser Ausgleich markiert die Startposition des Gläubigen. Der Horizont ist jetzt für das aktive Leben frei, die positiven Taten zählen. Es ergibt mit einem Mal Sinn, wenn Christenmenschen aus ihrem Leben etwas machen wollen und nicht immer nur hinter einer unendlichen Schuld herhecheln. Aus dieser Sicht beginnt der Weg in die moderne Welt in einem obskuren theologischen Traktat kurz vor dem Jahr 1100. Die Flucht Augustins vom antiken Fatum ins christliche Hyper-Fatum namens Prädestination ist seither zumindest der Möglichkeit nach zum Stehen gebracht worden. Daß sie im Calvinismus weiterging und weitergeht, steht auf einem anderen Blatt.
    Raulff: Modern ist vermutlich überhaupt die Mathematisierung oder Arithmetisierung des Schicksals, die Quantifizierung der Schuld und die Idee, man könne auch auf moralischem Gebiet Kalküle veranstalten. Es ist typisch neuzeitlich, daß solche Größen überhaupt addiert und subtrahiert werden können. Antikes Schicksal war schlechthin irreparabel, und Additionen, Subtraktionen usw. waren undenkbar.
    Sloterdijk: Aber in der beginnenden Neuzeit setzen sich diese Rechnungen durch, jedes Leben wird mit einer Evaluierung verknüpft. Das jüngste Gericht ändert seine Struktur. Das erkennt man vor allem am Auftauchen des Purgatoriums in der hochmittelalterlichen Beschreibung der Jenseitslandschaften. Die harte Alternative von Hölle und Himmel wurde damals relativiert durch die sehr populäre Schöpfung eines Zwischenbereichs, in dem die Menschen nachgeläutert, nachgereinigt, nachgebessert werden, so daß sie doch noch des Heils teilhaftig werden, sollten sie auch stark höllenverdächtige Überziehungen ihrer moralischen Konten angehäuft haben. Mit dem Purgatorium beginnt das Zeitalter der rationalen Rückzahlungsverfahren.
    Raulff: Und damit der Vorstellung von Reparabilität.
    Sloterdijk: Man könnte so weit gehen zu sagen, die moderne Therapiegesellschaft habe in der Erfindung des Purgatoriums debütiert. Die Idee der Schuld-Tilgung, die ihren Prototypus natürlich in den beginnenden Kreditgeschäften des hohen Mittelalters besaß, dringt bis in die Beziehungen des Menschen

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