Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
Vom Netzwerk:
mit den himmlischen Instanzen ein. Dabei öffnen sich Spielräume für menschliche Initiativen und Verdienste. Erst jetzt macht es wirklich einen Unterschied, ob man sich gut oder schlecht verhalten hat – eine Differenz, die in der radikal paradoxen und undurchdringlichen Augustinischen Welt nicht ohne weiteres möglich gewesen war: Dort kann der Verbrecher unerklärlicherweise in letzter Minute erlöst werden und der vermeintlich Heilige verflucht bleiben, wenn und weil die göttliche Gnadenwahl es im voraus so festgelegt hat. Dagegen entstehen jetzt Räume für menschliche Errungenschaften, erste Ansätze zum meritokratischen Denken können Fuß fassen. Eines Tages, gegen Ende des 18. Jahrhunderts, wird man in Amsterdam an der Kaisersgracht einen aufklärerischen Tempel errichten mit einer schönen griechischen Fassade, oben im Giebelfeld liest man die Worte: »Felix meritis« – glückselig durch eigenes Verdienst. Die Holländer sind die Erstgeborenen einer Welt ohne Hölle.
    Raulff: Aber wie steht jetzt die Fortuna in dieser Landschaft? Steht sie nicht dafür, daß es in dieser neuen arithmetisierten Welt noch immer ein Schwanken gibt, einen nicht kontrollierbaren Schaukelgang der Dinge und einen jederzeit möglichen Umsturz aus unbekannter Ursache?
    Sloterdijk: Deswegen heißt es ja bis weit ins späte Mittelalter: Laß dich von der Fortuna nicht beeindrucken und mach dir klar, daß eine günstige Fortuna die größere Gefahr darstellt. Es kann dir passieren, daß sie dich zum Schein bevorzugt, um dich danach um so tiefer fallen zu lassen. Hüte dich also vor dem Glück, aber laß dir auch vom Unglück nicht imponieren. Petrarca breitet diesen Ansatz in seinen Heilmitteln überwältigend vielfältig aus: Er erzählt jeweils rund einhundertfünfundzwanzig Geschichten mit mahnenden Beispielen nach beiden Seiten. Man versteht gut, warum die humanistisch-literarische Lebensberatung für die Menschen des 14. Jahrhunderts so wichtig wurde. Sie spürten, daß die Botschaft des Evangeliums im Verhältnis zu modernen Lebensverhältnissen völlig unterdeterminiert ist. Man wurde zunehmend auf das Überzeitliche oder besser das Unzeitgemäße an den Aussagen des Evangeliums aufmerksam. Das neutestamentliche Personal war nicht mehr zeitgenössisch, daran konnte auch die Malerei der Renaissance nichts ändern, die beharrlich so tat, als ließe sich das Evangelium visuell aktualisieren, während es moralisch in immer weitere Fernen entrückt wurde – es war ja kaum noch direkt zu gebrauchen in der neuen Arbeitswelt, in der entstehenden Politik, in den Künsten, in den Wissenschaften, im beginnenden Weltverkehr. Man mußte also einen Zwischentext einführen, der ausdrücklich entwickelte, was im Evangelium unbestimmt blieb. Hier finden die humanistischen Schriftsteller der beginnenden Neuzeit ihr Betätigungsfeld. Sie erinnern sich an das antike Wissen über die Fortuna und die Tyche. Vom 14. Jahrhundert an füllt sich das fast entleerte Reservoir des Glücks-Wissens und des Risiko-Denkens wieder auf. Es entsteht eine Art von stoisch-christlicher peoples press , die von den besonderen Schicksalen berühmter Männer und Frauen handelt. Boccaccios De claris mulieribus von 1374 ist eine Musterschrift der neuen kasuistischen Tendenz – nicht anders als seine höchst erfolgreiche Sammlung De casibus virorum illustrium , worin er zeigte, wie der Unstern – disastro – imstande ist, das Leben der Großen und Größten aus der Bahn zu werfen. Alle Welt ist plötzlich verrückt nach Fallgeschichten, als hätte man die ewigen Heiligenlegenden satt. Mag sein, daß dies in literarischer Hinsicht das ganze Geheimnis der Neuzeit ausmacht: Das Interessante läuft dem Erbaulichen den Rang ab. Dann betritt Machiavelli die Bühne. Bei ihm schlägt der Ton mit einem Mal um. Er rät den Menschen nicht mehr zur stoischen undevangelischen Indifferenz gegen Glück und Unglück, vielmehr lehrt er offen heraus, es komme darauf an, das Glück mit beiden Händen zu ergreifen. Wenn das Glück eine Frau ist, darf man nicht allzu lange zögern. Das verstehen manche Zeitgenossen auf der Stelle, Kaufleute und smarte Landesfürsten zuerst. In den hundert Jahren zwischen Petrarca und Machiavelli haben die Affären der Fortuna den großen Sprung nach vorn gemacht. Machiavelli redet schon wie ein Trainer, der zeitgenössische Menschen für das ganz große Spiel fit machen möchte, das Spiel um Macht und Glück und Erfolg in der Welt …
    Raulff: … da

Weitere Kostenlose Bücher