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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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üblich – noch ineinander über. Für Personen im Zentrum des unternehmerischen Clans ist Loyalität das höchste Gut – sie ist die merkantile Variante der klassischen philía. Loyalität und Ansehen eines Hauses bzw. einer Firma können nur gewahrt werden, wenn die Kaufleute wissen: Neben dem monetären Kapital und dem monetären Kredit gibt es ein zweites subtiles Kapital, einen zweiten Kredit, der möglicherweise wichtiger ist als der erste, nämlich die gute Reputation. Das Reputationskapital entscheidet letztlich über Glück und Unglück einer Firma, das heißt einer fest und firm etablierten unterschriftsfähigen Unternehmenseinheit auf den modernen Märkten. Tatsächlich kommen ohne den guten Ruf und dessen sorgfältige Mehrung längerfristige gedeihliche ökonomische Beziehungen zwischen distanten Partnern nicht zustande. Erfolgreiche Fernbeziehungen, wie sie unter Händlern stattfinden, sind auf Dauer nur möglich, wenn es für die Partner bessere Gründe für Vertrauen als für Mißtrauen gibt. Die Sicherung des Vertrauens durch Befreundung ist eines der Verfahren, die Fortuna zu domestizieren – die übrigen Erfolgsprozeduren liegen auf dem Gebiet des Risikomanagements, das schon damals erste Konturen annimmt. Darüber reden bei Shakespeare die Kaufleute auf dem Rialto in The Merchant of Venice. Soviel ist evident: Mit dem Evangelium allein kommt der Kaufmann nicht weiter, mit christologischen Überlegungen läßt sich der neue Markt nicht berechenbar machen. Deswegen hat sich um 1500 Europa vielerorts ein perfekt funktionierendes klandestines System der Doppeltheologie durchgesetzt: Für die Ernstfälle des Lebens das Christentum, für das Geschäftliche und Private der Kult der Fortuna.
    Raulff: Das heißt, man lernt, gleichzeitig Christ zu sein und Fatalist.
    Sloterdijk: Doch Fatalist im hellen Sinn des Wortes.
    Raulff: Im entrepreneurialen Sinn?
    Sloterdijk: In einem sehr praktischen Sinn, indem der Geschäftsmann wie der Hofmann fortwährend das Nötige tut, um sich die Gunst der Fortuna zu erwerben und zu erhalten. Doch wie gezeigt, war es am Beginn der Aufklärung umgänglich geworden, solche Denkfiguren zurückzudrängen. Das 18. Jahrhundert versuchte auf breiter Front, mit den feudalen Kategorien zu brechen, die Günstlingswirtschaft der Fortuna inbegriffen. Die Gleichheitsideologie konnte die Fortuna und ihren Hofstaat ebensowenig brauchen wie das frühe Christentum das Fatum.
    Raulff: Die frühe Aufklärung hat den amor fati ausgeschaltet, die Demokratie des 20. Jahrhunderts weiß mit ihm erst recht nichts anzufangen.
    Sloterdijk: Im großen und ganzen ist es darum richtig zu sagen, daß die Moderne das Schicksal zunächst außer Kraftsetzen mußte, weil mit ihr die Zeit anbrach, in der die Menschen den Vorsatz faßten, ihre Geschicke selber zu lenken. Wie es daraufhin zu den neo-fatalistischen Bewegungen kam, haben wir besprochen, und wie es zu deren Abklärung in der Aufklärung über Aufklärung und Gegenaufklärung kommen mußte, ebenfalls. Doch letztlich ist auch das Schema von Abschaffung, Wiederkehr und Abklärung des Schicksalsgedankens nicht befriedigend. Mir scheint, das Wichtigste fehlt in der glatten Erzählung. Ich gebe zu, erst in jüngerer Zeit ist mir klar geworden, worin die eigentliche Faszination des Fatalismus für Menschen jedes Zeitalters besteht, und die Menschen der Moderne machen hiervon keine Ausnahme. Fichte hat einmal bemerkt, was für eine Philosophie man wähle, hängt davon ab, was für ein Mensch man sei. Er unterschied bei den Menschen die Deterministen, die in seinen Augen Sklaven sind und die Unfreiheit genießen, und die Idealisten, für die die Freiheit das Höchste bedeutet. So problematisch diese Einteilung sein mag, es verbirgt sich in ihr eine bedeutsame psychologische Entdeckung. Es gibt seltsamerweise unzählige Menschen, für welche die Aussage »Man kann überhaupt nichts machen« die gute Nachricht zu sein scheint. Während andere sich gegen diese These mit allem, was sie sind, auflehnen, genießen die Liebhaber des Fatalen sie wie einen Freispruch von der Zumutung, etwas zu unternehmen.
    Raulff: Es gibt eine Überwältigungslust, die einen gewissen Entlastungsprofit realisiert. Roland Barthes hat dafür das schöne Wort vom »Willen zum Winterschlaf« geprägt.
    Sloterdijk: Die Neigung zum Überwintern auf dem Nullpunkt des Willens gibt es nicht nur in ihrer überwältigungslustigen Variante. Für unzählige Menschen des 20. Jahrhunderts war

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