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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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die quietistische Deklination der Fatalität ebenso attraktiv. Viele sind glücklich, wenn ihnen bewiesen wird, dass man schlechterdings nichts machen kann. Alles geht, wie es geht, alles kommt, wie es kommt. Ich hege den Verdacht, dies gilt nicht nur für den Fatalismus der kleinen Leute, die ihreRuhe haben wollen, auch ein Großteil der intellektuellen Bewegungen des 20. Jahrhunderts hatte an der Sehnsucht nach dem Winterschlaf Anteil. Die Ausschaltung des Subjekts ist eine seltsame theoretische Passion, mit der man nicht nur bei den Mystikern des Mittelalters, sondern auch bei den Modernen ständig rechnen muß. Der Marxismus in seiner vulgären Ausprägung war bereits ein massiver Fatalismus, wonach die Revolution ja früher oder später kommen mußte.
    Raulff: Der Wille zur Fatalität findet sich auf der Linken wie auf der Rechten. Bei der letzteren wird die Rolle des Fatums häufig doch mit einem homme fatal besetzt, einem Duce, einer starken Täterfigur …
    Sloterdijk: … einer Personifikation des Weltschicksals oder der nationalen Berufung. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat der Fatalismus das Lager gewechselt und sich in strukturell quietistischen Theorien angesiedelt, nun wieder ohne jeden Bezug auf die starken Täter. Seither bestimmt er anonym die intellektuelle Szene. Man erinnert sich: In den 50er Jahren tauchten die Post-Histoire-Theorien wieder auf, die im 19. Jahrhundert bei Cournot, im 20. bei de Man und anderen vorgedacht worden waren. Demnach wären wir in ein Zeitalter der Kristallisation eingetreten, die historischen Alternativen sind erschöpft, es bleiben nur noch Variationen in Nebensachen – Gehlens Wort von »Beweglichkeit auf stationärer Basis« bringt diese Ansicht auf den Punkt. Gleichzeitig setzt Kojève die Idee vom Ende der Geschichte in hegelianischer Variante noch einmal auf die Tagesordnung. Dann kommt der Strukturalismus mit seiner Überzeugung, daß in allem letztlich die anonymen Strukturen entscheiden: Die Menschen bilden sich immer nur ein, sie täten etwas, in Wirklichkeit tun sie nichts, weil die Strukturen in ihnen es tun. Damals feierte man den Tod des Autors und freute sich über die Austreibung des Subjekts aus den Geisteswissenschaften. Noch später kam die Systemtheorie made in Bielefeld. Sie schob elegant die ganze alt-europäische Semantik von Freiheit, Wille, Entscheidung, Engagement und dergleichen ins Archiv ab, wo sich Doktoranden mit alteuropäischen Phantomen auseinandersetzen. Zuletzt betreten unsere Freunde, die Neurowissenschaftler, die Szene und machen den Deckel über den alteuropäischen Handlungsillusionen zu. Vielleicht ist Marbach der ideale Ort, um diesen Entwicklungen ins Gesicht zu sehen. Die Geschichte des freien Subjekts kommt hinter Stahltüren zu Ende. Die Aufregung ist vorbei, das Zeitalter des glücklichen Nichts-mehr-tun-Könnens mag beginnen. Vielleicht erreichen wir so den heimlichen letzten Horizont unseres Themas.
    Raulff: Und an dem Punkt sollen wir aufhören?
    Sloterdijk: Ja, aber ohne Resignation. Der beste Schluß wäre ein Angebot an den Widerspruchsgeist des Beobachters. Ich zitiere gern einen anderen Ausspruch von Fichte, der einmal sarkastisch bemerkt hat, die meisten Menschen würden leichter dahin zu bringen sein, sich für ein Stück Lava im Monde als für ein Ich zu halten. Fichte hatte begriffen, daß der Naturalismus eine Hypnose ist, aus der man kaum ohne philosophische Beratung erwacht. In zeitgenössische Sprache übersetzt heißt das: Die meisten Menschen sind leichter zu überzeugen, daß sie ein Epiphänomen klebriger Nervenstränge sind, als daß sie bereit wären, sich für ein freies Individuum zu halten. Wer vom Gehirn redet, ist ein Verräter an der Freiheit. Diese Provokation haben wir uns verdient, nicht?
    Raulff: Es ist sehr anstrengend, ein Individuum sein zu wollen.
    Sloterdijk: Das Individuum ist eine vergebliche Leidenschaft, aber eine Leidenschaft soll es doch bleiben.
    ----
    [ 31 ] Dieses Gespräch zwischen Peter Sloterdijk und Ulrich Raulff erschien unter dem Titel »Schicksalsfragen: Ein Roman vom Denken« in: Marbacher Magazin, Ausstellungskatalog Schicksal. Sieben mal sieben unhintergehbare Dinge , Deutsche Schillergesellschaft, Nr. 135, Marbach am Neckar 2011, S. 14-72.
Ulrich Raulff ist seit 2004 Leiter des Deutschen Literaturarchivs in Marbach am Neckar.

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