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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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den Archetypus der grauen Eminenz, den berüchtigten Père Joseph, der dem mächtigsten Mann des 17. Jahrhunderts, dem Kardinal Richelieu, als spiritueller Monitor zur Seite stand, ein paradigmatischer Fall für höchste Machtausübung aus der religiösen Kulisse. Mit ihm wurde das Grau der Kapuzinerkutte zur ersten politischen Farbe in Europa. Ein Blick auf die italienische Szene zeigt, daß diese Funktion auch von einer weltlichen Person wahrgenommen werden kann, die fähig ist, das Fürstengeheimnis zu teilen …
    Raulff: … zu teilen und zu hüten.
    Sloterdijk: In der Tat, »teile und hüte« lautet der Schwur des Sekretärs. Das ist zugleich sein Wahlspruch und die Grundlage seines Berufs. Er weiß zwei Dinge, die das Volk und der Hof bei Strafe des Machtverlusts nicht wissen sollen. Das eine ist: Zur Machtausübung gehört die Bereitschaft, gegen Moral und Gesetz zu verstoßen, wenn es nötig ist …
    Raulff: … die Bereitschaft, Verbrecher zu sein …
    Sloterdijk: Vielleicht muß man es so drastisch ausdrücken. Das zweite, vielleicht noch peinlichere Geheimnis besteht darin, daß Macht haben bedeutet, in der Regel nicht zu wissen, was zu tun ist.
    Raulff: Zunehmende Ohnmacht bei zunehmender Macht?
    Sloterdijk: Ebendies ist das Geheimnis, das es zu teilen und zu hüten gilt. Der secretario ist derjenige, der am besten versteht, in welchen Verlegenheiten der Mächtige sich befindet. Hier entspringt die zweite Quelle der modernen Konsultation: Sie läßt die allgemeine literarische Lebensberatung hinter sich und geht in konkrete Machtberatung über. Deren Kernstück ist die Einsicht, daß es zwischen einem Handlungsplan und seiner Ausführung kein Kontinuum gibt. Die Mächtigen stehen, wenn sie, wie man so schön sagt, zur Tat schreiten wollen, nicht am Beginn eines gepflasterten Weges, sondern vor einem Abgrund oder einer breiten Kluft. Aufgrund des Diskontinuums kann man zur Tat nicht ambulant schreiten, man kann in sie nur springen. Der secretario ist derjenige, der den Mächtigen hilft, den Absprung zu finden. Fast immer sind Gräben der Unentschiedenheit, des Zögerns, des Risikobewußtseins zu überwinden, um praktisch zu agieren, und niemand weiß das besser als der Mann in der exponierten Position. Sein intimer Mitwisser weiß es ebenso. Machthaben heißt auch stets sich bewußt halten, wie sehr die Dinge schiefgehen können.
    Raulff: Man sollte demnach die ältere Sekretäre-Literatur nachlesen, wenn man wissen möchte, was aus dem Schicksal wird, sobald Konsultanten und Risikomanager sich in seine Gestaltung einschalten.
    Sloterdijk: Ich habe kürzlich eher zufällig eines der Grundbücher der beginnenden Neuzeit in die Hand genommen: Leon Battista Albertis Della famiglia – »Vom Hauswesen« –, geschrieben um 1460. Es handelt sich scheinbar um eine brave Hausvaterschrift zum Nutzen der eigenen Nachkommen. In Wahrheit ist es ein Buch, in dem man nicht weniger zu Gesicht bekommt als die ökonomische Neuzeit, die sich gerade reisefertig macht, in Sprachspielen der klassischen Philosophie gespiegelt. Der Verfasser ist einer von den Akteuren, die längstbegriffen haben, daß man sich selbst auf das Spielfeld begeben muß, wenn man von der Fortuna eine Gunst erwartet – zumal wenn man sich ihrer Gunst über längere Zeit vergewissern möchte. Der vierte Abschnitt des Buchs handelt von der Freundschaft, weswegen man zunächst versucht sein könnte zu glauben, der Verfasser werde nichts anderes zu bieten haben als zeitübliche Variationen über das aristotelische Motiv der philía. Tatsächlich scheint er fürs erste nur eine freie Paraphrase über das Thema der Freundschaft anhand von aktuellen Beispielen zu liefern. In Wahrheit hat man die erste Theorie des Networking vor sich. Der Ausgangspunkt von Albertis Überlegungen ist klar: Um Geschäfte in der weit gewordenen Welt zu einem glücklichen Ende zu führen, muß der Unternehmer überall in der Ferne Freunde haben. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß der Unternehmer für Alberti noch nicht die faustische Einzelperson ist, sondern die aktive Familie, der machtbewußte Clan. Die einzige Methode, sich der Loyalität der Mitarbeiter an nahen und fernen Geschäftsplätzen zu vergewissern, besteht zu jener Zeit darin, an den entscheidenden Stellen nach Möglichkeit Angehörige der eigenen Familie zu postieren. Allerdings gehen hier sprachlich und sachlich die Familie und der Freundeskreis – wie seit der griechischen und römischen Antike

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