Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
19. Jahrhunderts den Tod Gottes verkündet, prophezeit er zwei Jahrhunderte des Nihilismus. Wären Sie, der manchmal einen »linken Nietzscheanismus« für sich beansprucht, für das 21. Jahrhundert genauso pessimistisch?
SLOTERDIJK: Wenn Nietzsche vom Nihilismus spricht, dann deshalb, weil er verstanden hat, daß man auf dem Grund der Dinge den Zufall findet und nicht die göttliche und weise Notwendigkeit, die von Anbeginn der Zeiten so sehr verehrt wurde. Unsere Zeit hat diese wichtige Intuition eingeholt. Die Inflation des »Renommees« oder besser der celebrity , was sich als wichtigster Ausdruck des Schicksals in den kommenden Jahrzehnten und Jahrhunderten durchsetzen wird, ist in dieser Hinsicht sehr aufschlußreich. Im 21. Jahrhundert kann jeder Beliebige zu einem Weltstar werden, und zwar aus den unvorhersehbarsten und oft auch lächerlichsten Gründen. Es wird also das Jahrhundert der Tyrannei des Zufalls sein. Natürlich war der Zufall schon immer an der Macht, aber er wurde noch nie in entblößtem Zustand wahrgenommen. Solange die Menschen sich angesichts dessen, was sie nicht steuern konnten, in ihr Schicksal fügten, erschien ihnen der Zufall immer unter einemreligiösen Aspekt, gleichsam als Offenbarung einer höheren Gewalt – la forza del destino . Aber die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hat eine Menschheit geschaffen, die davon überzeugt ist, daß das erste Menschenrecht darin besteht, in einer Welt zu leben, die von den Launen des Schicksals befreit ist: Der Skandal des Zufalls – dieses großen Erzeugers von Ungleichheit – wird sich daher in einer rationalisierten Welt immer stärker profilieren. Er wird die höhere Gewalt der Zukunft sein. Man merkt das schon an der Kultur des 20. Jahrhunderts: Die Ungleichheiten, die nur die Herrschaft des Zufalls kundtun, rufen das Gefühl hervor, in einer absurden Welt zu leben.
NASSIF: Trotzdem scheint die Epoche dem Absurden den Rücken zu kehren. Was sich heute zeigt, hat eher mit einem Willen zur Sinnhaftigkeit zu tun.
SLOTERDIJK: Der Individualismus des 21. Jahrhunderts wird sich genau in dem Willen zeigen, den Zufall als eine gewollte und vorbedachte Handlung auszugeben. Das wird eine neue Form einer ewigen Mystifizierung sein. In der Vergangenheit lebte man mit dem Gefühl einer Notwendigkeit, die alles durchdringt, einer globalen Voraussicht, die als großer Regisseur sowohl der Welt- als auch der Heilsgeschichte handelte. Nun hat Nietzsche aber den Vorhang weggezogen: Wenn man den Dingen auf den Grund geht, findet man Wiederholung und Zufall. Das ist die absolute Neuheit des modernen Denkens.
NASSIF: Eine Neuheit, die schwer zu verdauen ist.
SLOTERDIJK: Sie läßt sich besser verdauen, wenn man berücksichtigt, daß neben der Komödie des absoluten Zufalls, dessen Gipfel die so und so seiende Welt ist sowie ich selbst mit all meinen Eigenschaften, die zunehmende Verdichtung der Kulturen auf der Erde zum anderen Faktor des Schicksals geworden ist, der die Zukunft gestalten wird. »Dichte« bedeutet, daß die Wahrscheinlichkeiten für Begegnungen und Zusammenstöße gleichsam unendlich geworden sind. In jedem beliebigen Augenblick können Sie eine Begegnung erleben, die Ihr Leben neu ausrichten wird.
NASSIF: In Ihrer Sphären -Trilogie vertreten Sie gerade die bilderstürmerische Idee, daß der Stadtmensch trotz der Vervielfachung von Single-Haushalten nie allein ist.
SLOTERDIJK: Mein Projekt gründet sich allerdings auf eine philosophische Feindseligkeit gegenüber der Ideologie des einsamen Individuums. Meine These ist, daß es in letzter Instanz gar kein Individuum gibt. Ich lehne die irrige Vorstellung der ontologischen Einsamkeit ab, auf der sich die Gesellschaft der Moderne aufbaut. In Wahrheit bedeutet Sein immer Begleitetsein, aber nicht unbedingt auch von einem sichtbaren Begleiter. In der scheinbaren Einsamkeit des Individuums verbirgt sich immer ein unsichtbares Paar. Ledig sein bedeutet also, mit einem verborgenen Anderen zusammen ein Paar zu bilden – und wenn es nur mein unbekanntes Ich ist. Die moderne, städtische, einsatzbereite und aktive Subjektivität entspricht perfekt der Idee des nach innen projizierten Paars. Es geht darum, den Unterschied von sich selbst zu sich selbst zu leben. Die Fähigkeit, allein zu leben, bedeutet im Grunde: die Mittel, die Medien, die Übungen gefunden zu haben, um sich auf selbstreferentielle Weise zu ergänzen. Ich bin nie alleine mit meinen Büchern, nie alleine mit der Musik, die
Weitere Kostenlose Bücher