Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
ich hören möchte, nie alleine mit meinem inneren Polylog. Über all diese Dinge spreche ich eingehend im dritten Band der Trilogie mit dem Titel Schäume . Die Amerikaner wissen es: Wenn sie sich von uns verabschieden und »take care« sagen, dann ist das eine bestimmte Art und Weise, sich an unseren unbewußten Zwilling zu wenden.
NASSIF: Die Franzosen würden eher »Viel Erfolg« [bon courage, wörtlich »guter Mut«] sagen: Sollte man darin nicht ein Zeichen dafür sehen, daß die Idee der individuellen Einsamkeit hier stärker verankert ist als jenseits des Atlantiks?
SLOTERDIJK: Warum sollte man den Mut nicht als einen mehr oder weniger treuen Begleiter auffassen? Ich und mein Mut, wir kommen am Ende gar nicht schlecht zurecht! Der Mut ist der gute Geist des Alltags.
NASSIF: Wenn die Psychologie in den Augen der Öffentlichkeit in den letzten Jahrzehnten einen solchen Einfluß auf die Philosophie ausgeübt hat, dann nicht vielleicht deshalb, weil sie ein Modell des innigen Paares »Ich und mein Unbewußtes« an der Stelle vorgeschlagen hat, an der die Philosophen lange Zeit an die Idee eines autonomen und daher einsamen Bewußtseins gekettet waren?
SLOTERDIJK: Die ganze Problematik der europäischen Ersten Philosophie leitet sich aus der Tatsache ab, daß die Griechen die Menschen als »Sterbliche« bezeichneten. Wenn die Entscheidung getroffen wird, die Betonung auf die Sterblichkeit des Menschen zu legen, wendet man sich an den Erwachsenen, an das vollständige Exemplar des Menschen. Angesichts des Menschen, der weiß, daß er stirbt, hat man immer den Eindruck, daß die Einsamkeit die letztendliche Wahrheit der Existenz sei. Nun wäre es aber durchaus vorstellbar, die Betonung auf den anderen Pol der menschlichen Existenz zu legen: die Geburt. In der Ideengeschichte wurde dieses Motiv erst spät gewürdigt, im 20. Jahrhundert von Heidegger, Hannah Arendt oder von mir selbst. Hier ist nicht mehr die Sterblichkeit, sondern die Tatsache des Geborenseins entscheidend. Nun trägt aber das Geborensein keine Spur von Einsamkeit: Geboren zu werden bedeutet, es mit einem Empfangskomitee zu tun zu haben – die Protoidee des Neugeborenen ist in der Regel: Hier gibt es Menschen. Zuerst die Menschen, dann die Dinge. Es gibt also Neugeborene, die im Schoße der Familie diese tiefgründige Tonart des Empfangenwerdens erleben, die ihre Gestalt dem verleiht, was später »die Welt« werden wird. In philosophischer Hinsicht erleben wir eine große Wende, die von einer Priorität der Sterblichkeit zu einer Priorität des Geborenwerdens führt. Die Menschen des 21. Jahrhunderts werden keine Sterblichen, sondern solche sein, die geboren wurden, Geburtswesen. Um die Menschenrechte entsprechend unserem Wissensstand neu zu denken, muß man sich eine Menschheit jenseits des Diktats der reinen Sterblichkeit vorstellen – eine Menschheit, derenAngehörige den Willen ausdrücken, vollends auf die Welt zu kommen.
NASSIF: Sie fordern uns also auf, unser Leben als eine Folge von Geburten zu leben, anstatt von kleinen Toden?
SLOTERDIJK: Was uns dazu bringt, einen zusätzlichen Schritt auf die Entmystifizierung des Schicksals hin zu machen. Früher bestand das Schicksal darin, in die Welt »geworfen« zu sein, um den ebenso verdrießlichen wie genialen Begriff des jungen Heidegger aufzunehmen. Nun kann sich derjenige, der nach vorne geworfen wurde, aber niemals die Kräfte aneignen, die ihn geworfen haben, ebensowenig wie ein Geschoß sich die Kanone hinter ihm aneignen kann.
NASSIF: Die Entmystifizierung des Schicksals gestattet uns also die Wiederaneignung der Kräfte, die uns in die Welt geworfen haben?
SLOTERDIJK: Ja, und zwar angefangen bei der biologischen Kanone, der Sexualität. Man sollte jedoch das Wort »Aneignung« mit großen Vorbehalten verwenden. Es ist kein Zufall, daß das 20. Jahrhundert die Sexualität säkularisiert hat: Es ging darum, das Schicksal zum Stehen zu bringen, das im Grunde darin besteht, daß die Menschen Kinder produzieren – und sehr oft produzieren sie zuviel. Sie wußten nicht, was sie taten, als sie Kinder in die Welt setzten, denen sie nicht versprechen konnten, was die Amerikaner »a decent life« nennen. Ein ordentliches Leben, genau das sollten die Eltern ihren Nachkommen versprechen können. Die Handhabung der Fortpflanzung ist also das Geheimnis des Schicksals. Meistens ist das Unglück ein Erbe. Diese Mechanismen werden zwar nie völlig aufgeklärt werden. Aber wir besitzen nunmehr
Weitere Kostenlose Bücher