Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
genügend Informationen, um zu wissen, daß es möglich ist, aus unseren körperlichen und psychischen Krankheiten nicht notwendigerweise eine Erbschaft für jene zu machen, die uns nachfolgen. Das große Spektrum therapeutischer Techniken gestattet uns heute, den Fluch zu brechen. Und genau darum geht es: Die Aufklärung ist ein Versuch, das Schicksal zu sabotieren. Mankann die schlechte Wiederholung unterbrechen. Und wie man in den westlichen Ländern zur Zeit der zweiten Empfängnisverhütung sieht, kann das Schicksal auch unterbrochen werden, indem man die Überproduktion der Menschen beseitigt.
NASSIF: Aber besteht sie nicht anderswo allerorten fort?
SLOTERDIJK: Vorsicht! Das 21. Jahrhundert wird eine Neuverteilung der Rollen zwischen den Kulturen hervorbringen, die zu viele Kinder produzieren, und denjenigen, die nicht genug produzieren. Im Augenblick gibt es meines Wissens 62 Nationen, die demographisch schrumpfen, und ungefähr 130, die eine positive Reproduktionsrate aufweisen, sei es eine gemäßigte oder eine überzogene. Und hier kann man unter der optimistischen Annahme, der zufolge das 21. Jahrhundert keine Serie von ebenso schrecklichen Katastrophen erleben wird wie das vorangehende, die Hoffnung hegen, daß die Mehrheit dieser 130 bald dem Klub der Länder beitreten, die wenig Kinder produzieren.
NASSIF: Tunesien und der Iran sind beispielsweise schon auf den Stand Frankreichs gefallen.
SLOTERDIJK: Das ist völlig überraschend, gleichzeitig aber auch völlig logisch. Während wir über den Wahnsinn der Ayatollahs diskutieren, sollten wir besser von jener außergewöhnlichen Vernunft sprechen, die die iranischen Familien bezeugen, indem sie nur zwei Kinder pro Ehepaar produzieren. Hier gibt es etwas, das die Ayatollahs unterschätzt haben: eine Art von biologischem Streik der Iranerinnen. Denn, indem sie nicht mehr als zwei Kinder zeugen, berauben sie den Staat seiner zukünftigen Gläubigen. Und in dieser Ecke der Welt Gläubiger zu sein bedeutet, daß man in einem heiligen Krieg geopfert werden kann. Und dennoch wird es keinen heiligen Krieg im Iran geben, weil es keine jungen Männer mehr geben wird, die ihn führen, selbst wenn die Vorstellung davon noch einige Jahre in den Köpfen der Führer bleiben wird. Auch dort holt man die Franzosen und Amerikaner ein, die seit langem die Gesellschaft des einzigen Sohnes repräsentieren. Mit Armeen einziger Söhne kann man keine Kriege mehr führen, die viele Opfer verlangen – aus welchem Grund die Kriegskunst im Westen sich immer mehr den automatischen Waffen zuwendet. Eine Familie, die sechs, sieben Kinder hat, kann notfalls eines oder zwei opfern, da man ohnehin nicht wußte, was man mit ihnen anstellen soll.
NASSIF: Entwerfen Sie nicht ein recht grausames Bild der vergangenen Kulturen?
SLOTERDIJK: In der Weltgeschichte sind es die zweiten und dritten Söhne, die die großen Störenfriede waren. Die Kulturen, die nur einen einzigen Sohn haben, werden ruhiger. Warum hat Frankreich die Idee der Revolution in den 1880er und 1890er Jahren aufgegeben? Weil es das erste Land in Europa und folglich in der Welt war, das das Prinzip der Familie mit zwei Kindern praktiziert hat. Die anderen Nationen machten sich über die Liebe auf französische Art lustig, d. h. über die Art und Weise, miteinander zu schlafen, um das dritte Kind zu verhindern. Europa lachte sich ins Fäustchen über Praktiken des analen Koitus oder der Fellatio, die als Geheimnis der französischen Erwachsenen galten. Aber diese Art von Liebe war der wahrhafte Pazifismus, weil man keine Kinder zum Kriegführen mehr produzierte. Sie werden einwenden, daß das Frankreich nicht daran gehindert hat, sich in den Ersten Weltkrieg zu stürzen. Aber es waren die Generationen, die vor der demographischen Wende geboren wurden, die sich in den Schützengräben befanden. Der Zweite Weltkrieg wurde von Frankreich unter anderem deshalb verloren, weil sich das Land gegenüber Deutschland in einer Phasenverschiebung befand: Bei den Germanen fand der große Rückgang der Geburtenrate etwas später statt, nämlich um den Beginn des Ersten Weltkriegs. Die letzten massiven demographischen Kohorten, die zwischen 1910 und 1914 geboren wurden, waren um die 20 Jahre alt, als Hitler an die Macht kam. So fand er zwei oder drei Millionen junger Männer, die bereit waren, verheizt zu werden, und es war seine tiefe Überzeugung, daß sie zu nichts anderem bestimmt waren.
NASSIF: Wenn man die Geburt als Motiv eines
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