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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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privilegierten Denkens betrachtet, werden dann die demographischen Kurven zu einer grundlegenden Erklärungsstruktur der Evolution menschlicher Gesellschaften?
    SLOTERDIJK: Die Griechen sagten, daß das beste Schicksal darin besteht, nicht geboren zu werden. Wir können diesen Satz als ein Bekenntnis von Optimismus auffassen: Das Beste auf der Welt vom Standpunkt derer aus betrachtet, die schon leben, besteht darin, die Erde nicht mit Menschenmassen zu bevölkern, die man nicht ernähren kann. Diese elementare Unterlassung ist das eigentliche Wesen der Menschheit. Und hier muß man gegen die »mortalistische« Ideologie kämpfen, die vom Papsttum verkörpert wird. Die katholische Kirche hat diese entscheidende Wende zur Moderne nicht vollzogen: Sie will immer noch das Sperma schonen, um es ausschließlich der Fortpflanzung vorzubehalten. Und wenn Italien heute eines der Länder mit der geringsten Geburtenrate der Welt ist, dann trotz des Vatikans und dank der Italienerinnen, die sich entschieden haben, ihren Wunsch, Kinder zu haben, aufzuschieben mit dem Risiko, daß der Augenblick nie kommen wird.
    NASSIF: Bieten uns unsere Wohlstandsgesellschaften durch die Vermehrung der Möglichkeiten spiritueller Therapien oder der Psychoanalyse nach asiatischen Ansätzen nicht das Privileg, eine zweite Geburt zu erleben?
    SLOTERDIJK: Vorsicht mit dem Ausdruck »zweite Geburt«. Das 19. und 20. Jahrhundert waren die Bühne für das Ende der sogenannten Erlösungsreligionen. In spiritueller Hinsicht treten wir in eine Zeit ein, wo nicht mehr die Erlösung, sondern die Entlastung zählt. Die klassische Erlösung schlug einen Heilsweg vor, der uns aus dieser Welt herausreißt und auf eine andere Welt ausrichtet: Früher ging es darum, seinem ersten Leben den Rücken zu kehren, um sich gänzlich einer radikal anderen Lebensweise zu widmen. Aber seit einigen Jahrhunderten haben wir einen gigantischen spirituellen Wandel durchlaufen, der von einer Spiritualität, die von der Verneinung desLebens und der Welt durchdrungen war, zu einer Spiritualität führt, die auf die Bejahung gegründet ist. Deshalb wird die Religion der Entlastung, der Linderung, der Erleichterung des Lebens, des Wohlbefindens oder der Fürsorge, um einen Begriff aufzunehmen, der merkwürdigerweise in der Politik erscheint, eine wesentliche Rolle in den Ritualen der zukünftigen Menschheit spielen. Für uns gibt es keine zweite Geburt mehr. Jedermann setzt auf die erste, die völlig ausreichen wird, um das Aufblühen einer neuen Spiritualität zu ermöglichen.
    NASSIF: Ist diese neue Art, die Spiritualität zu betrachten, nicht das Thema Ihres letzen Buches Du mußt dein Leben ändern , in dem Sie feststellen, daß die Wirtschaftskrise uns dazu verpflichten wird, das zu tun, was der Politik nicht gelang: unser Leben zu verändern?
    SLOTERDIJK: Die Bilanz aus dreißig Jahren spiritueller und körperlicher Übungen ziehend, habe ich den Weg einer neuen Art von philosophischer Anthropologie gewählt. In meinem neuen Buch zeige ich, daß in den Grundbegriffen unserer Kultur, mit anderen Worten in der klassischen Handlungstheorie unserer Soziologen, ein Grundbegriff fehlt, ohne den es für immer unmöglich bleiben wird zu sagen, wie wir leben. Für die Klassiker der Soziologie gibt es einerseits die Kommunikation und andererseits die Arbeit: Man kann entweder miteinander sprechen, oder man kann dem anderen den Rücken kehren, um seine Energien in die Entwicklung eines Produkts zu investieren. Aber was die Modernen vergessen haben, ist die dritte Dimension unserer Tätigkeiten, die man unter dem Begriff der »Übung« zusammenfassen kann.
    NASSIF: Was verstehen Sie unter Übung?
    SLOTERDIJK: Die Übung besteht in sich wiederholenden Operationen, deren Ergebnis die Stabilisierung oder Verbesserung der Fähigkeit des Subjekts ist, dieselbe Operation bei der nächsten Wiederholung auszuführen. Wer Übungen macht, entwickelt seine eigene Form. Man muß aber verstehen, daß der Mensch ein Wesen ist, das nicht in der Lage ist, keine Übungen zu machen: Er ist verdammt zur Wiederholung. Die einzige Alternative besteht darin, bewußt zu wiederholen oder sich von den Gewohnheiten überrumpeln zu lassen. Die passiven Gewohnheiten sind ganz einfach unbewußte Übungen oder gar Abhängigkeiten oder Zwangsvorstellungen: Dagegen beginnt jede Kultur mit der Entdeckung, daß wir in der Lage sind, uns selbst durch gezielte Übungen zu bilden. Die persönliche Kultur besteht in dem

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