Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Willen, den Akrobaten in uns freizusetzen.
NASSIF: Ist das nicht der Grund für die wachsende Bedeutung des Coaching: Jemanden zu finden, der uns aus unseren unbewußten Übungen herausreißt, um uns in bewußte Übungen einzuführen?
SLOTERDIJK: Vom spirituellen Gesichtspunkt aus wird das Bewußtsein dieser Dimension der Übung in der menschlichen Existenz meiner Ansicht nach deutlicher werden. Unerwarteterweise ist wahrscheinlich der Sport der große Vorbote dieser Bewegung gewesen. Durch seine relative Neuheit war der Sport im Profil der modernen Kultur die spannendste Erscheinung. Seine Demokratisierung beweist, daß die selbstreferentiellen Tätigkeiten im vordersten Rang angekommen sind. Meine Prophezeiung ist, daß die Soziologie in zwanzig Jahren kaum noch über die Arbeit und auch nicht mehr über die Kommunikation sprechen wird, sondern über diese Gruppe von Tätigkeiten, die wir unter dem Begriff der Übung zusammenfassen.
NASSIF: Übungen, die dann nicht mehr nur sportlich, sondern auch spirituell sein werden?
SLOTERDIJK: Der Sport ist die Metapher für etwas, das weit über ihn hinausgeht. Natürlich liegt die robuste und primitive Dimension des Sports völlig auf der Hand. Aber die Simplizität der Sportler sollte den Intellektuellen nicht mehr als Entschuldigung dafür dienen, sich nicht für den Sport zu interessieren. Denn über den Sport vermittelt beobachtet man die Entstehung einer Form der Spiritualität, die auf der Bejahung gründet, und zwar genauer auf der Bejahung der Form. Nun wissenwir aber seit Nietzsche, daß Sein In-Form-Sein bedeutet. Darüber hinaus ist das In-Form-Sein ein komplexeres Phänomen, das nahezu die Gesamtheit dessen umfaßt, was man früher gewöhnlich Religion nannte. Aber die Notwendigkeit, sich in Form zu bringen, ohne daß uns das von den anderen aufgezwungen wäre, kann nur das Ergebnis einer alltäglichen Kultivierung sein, d. h. eines Systems guter Gewohnheiten. Das eröffnet uns langfristige Perspektiven. Hier muß man Malraux korrigieren: Das 21. Jahrhundert wird akrobatisch sein oder es wird nicht sein.
NASSIF: Besitzt nicht die Konsumkultur, die von den Massenmedien propagiert wird, die Tendenz zur Entmutigung dieser Notwendigkeit eines jeden, seine eigene Form zu erringen?
SLOTERDIJK: Die Medien, die die Massenkultur verbreiten, reagieren auf die Notwendigkeit, denen ein Training anzubieten, die sich nicht wirklich anstrengen wollen. Das ist das Training der Faulen. Das Ergebnis kennen wir: Wir bewegen uns auf 50 Prozent Übergewichtige in der Weltbevölkerung zu. Dennoch wird auch durch die Massenmedien eine wesentliche Einsicht transportiert: Der Beginn jeder Weisheit, jeder persönlichen Erkenntnis liegt in der Wahl des Trainers. Plötzlich versteht man, daß man nicht ganz alleine trainieren kann. Von diesem Gesichtspunkt aus kann sogar ein Instrument die Rolle eines Lehrers spielen: ein Klavier, eine Geige, ein Schlagzeug, ein Videospiel.
NASSIF: Gebrauchen Sie nicht einen ziemlich weiten Begriff geistiger Übungen?
SLOTERDIJK: Nur eine erweiterte Sicht wird uns ermöglichen, die Gesetze unserer kognitiven Biographien zu erfassen. Vergessen wir nicht, daß eine moderne spirituelle Laufbahn normalerweise mehrere Bekehrungen beinhaltet. Die klassische Bekehrung folgte einem Schema, dem zufolge man von der Anbetung der römischen oder germanischen Götter zum Gott des Christentums überging. Buddha, Mohammed, Christus sind übrigens die Namen der großen Trainer, und ihre Nachfolgersind nur Trainer zweiten Ranges, die man besser unter dem Namen der Apostel oder der Priester kennt. Was man Bekehrung nannte, erweist sich also als ein Trainerwechsel. Heutzutage kann man sich sehr oft nicht mehr mit einer einzigen Bekehrung begnügen.
NASSIF: Ihre Tochter, die Mitte der 1990er Jahre geboren wurde, wird den größten Teil ihres Lebens im 21. Jahrhundert leben. Welche Erfahrungen können Sie ihr wünschen?
SLOTERDIJK: Da sie verstanden hat, daß es nicht genügt, schön zu sein, hat sie eine kluge Wahl getroffen, indem sie sich für ein gutes Internat entschied, wo sie alles tun kann, was für die Inangriffnahme ihrer Zukunft nötig ist: Freundschaftsübungen, Hoffnungsübungen, Erkenntnisübungen, Telefonierübungen mit ihren hocherfreuten Eltern.
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[ 32 ] Dieses Gespräch zwischen Peter Sloterdijk und Philippe Nassif erschien unter dem Titel »L'homme dans la repetition/Le XXI e siecle sera acrobatique« in: Cles, Trouver du Sens, Retrouver du
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