Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
Vom Netzwerk:
indes die romanischen Sprachen schamhaft den heidnisch klingenden Tag der Sonne in den des Herrn umbenannten, die dies domenica, von der das französische dimanche und das spanische domingo herkommen. Fraglich wurde infolgedessen, ob der Sonntag der letzte oder der erste Tag der Woche sei: Da der Sonntag dem astralen Protokoll entsprechend den Vortritt vor dem Tag des Mondes hat, behauptet jetzt die Ruhe den Vorrang vor der Tätigkeit, während in der älteren Mythologie die Ruhe auf die Verausgabung folgt. Einer, der das ursprüngliche Schema noch gut verstand, ist Goethes Mephisto: »Natürlich, wenn ein Gott sich erst sechs Tage plagt und selbst am Ende Bravo sagt, da muß es was Gescheites werden.«
    OSTEN: Ein weiteres Wort zu der »Hintergrundstrahlung«, die vom Gilgamesch-Epos ausgeht: Es gibt dort die große Freundschaft Gilgameschs mit Enkidu, seinem Seelengefährten, dem er nach dessen Tod bis in die Unterwelt folgt. Ein Freundschaftsbeweis, der auch in Ihrem Libretto eine zentrale Bedeutung gewinnt: Dort steigt Inanna in die Unterwelt ab, um den geopferten Geliebten, Tammu, zurückzufordern. Ob das Publikum die Tiefendimension dieser faszinierenden Spiegelung erkennen wird?
    SLOTERDIJK: Solange die Oberfläche verständlich genug ist, steht es jedem frei, in eine zweite, dritte, vierte mythologische Schicht vorzudringen. Bei dem Wort »Hintergrundstrahlung« wäre mitzudenken, daß die Zeit etwas ist, das sich durch Schichtung in räumliche Verhältnisse übersetzt. Wir haben im Deutschen die Möglichkeit, zwischen der Geschichte und dem Geschichte zu unterscheiden. Das letztere ist die verräumlichte Zeit. Es bildet die archäologische Dimension, in die der Spaten des Historikers eindringt, wenn er abgesetzte Vergangenheit untersucht. Nach meinem Dafürhalten ist der Verfasser eines Librettos gut beraten, ausschließlich verständliche Oberflächen zu präsentieren. Er darf nie tiefere Bedeutungen vor sich hertragen. Nichts ist langweiliger als ein Hinweisschild mit der Aufschrift: Doppelsinn! Solche Schilder sollten am Rande einer Libretto-Straße nirgends stehen. Das schließt nicht aus, daß es unter der Oberfläche versteckte Bezüge gibt.
    OSTEN: Es werden auch musikgeschichtliche Ober- und Nebentöne zum Klingen gebracht, die von Monteverdis Orpheus bis zur Zauberflöte reichen, wo Pamina dem Geliebten durch eine »Unterwelt« von Prüfungen folgt.
    SLOTERDIJK: Apropos Zauberflöte: Deren Librettist Schikaneder ahnt selber gar nicht, woher wohl die Riesenschlange kommt, die den armen Tamino eingangs verfolgt – für ihn war es einfach ein Märchenmotiv, das er für einen theatralischen Start brauchen konnte. Schauen wir nach Mesopotamien, erkennen wir sofort, was es mit dem prinzenfressenden Ungeheuer auf sich hat: Es ist die Tiamat, der weibliche Ur-Drache, aus dessen Zerstückelung dereinst Himmel und Erde geschaffen wurden.
    OSTEN: Welche Bedeutung hatte diese Tiamat?
    SLOTERDIJK: Die große Schlange ist auf der Seite des anfänglichen Chaos angesiedelt und ihre kleinen Verwandten verhalten sich entsprechend. Im mesopotamischen Mythos wird die Ur-Differenz von Chaos und Kosmos in dem Antagonismus zwischen der Tiamat, dem Urchaos-Drachen, und Marduk,dem Schöpfergott, verkörpert, der in unserer Oper in der Figur des Opferpriesterkönigs präsent ist. Was die mythologische Psychologie angeht, spielen wir mit der Möglichkeit der Doppelidentität jeder Figur. Die meisten Personen im Ensemble sind naturgemäß erst mal sie selbst, aber sie verkörpern zugleich eine mythische Gestalt, die manchmal einen gleichlautenden Namen trägt. Inanna ist die Priesterin, die sie ist, doch wird sie im sechsten Bild zur Göttin gleichen Namens.
    OSTEN: Sie spiegelt die Gestalt der von Gilgamesch im Epos abgewiesenen Liebesgöttin, die auch Inanna hieß.
    SLOTERDIJK: Mit Tammu, dem männlichen Protagonisten, gehen wir noch einen Schritt weiter. Er ist zunächst Inannas Geliebter, ein jüdischer Jüngling, der sich mit dem König angefreundet hat, wie Joseph mit dem Pharao. Er wird im Rahmen des babylonischen Fests geopfert, lokalen Mythenzwängen gehorchend. Zugleich ist er schon eine Christus-Präfiguration, da er nach seinem Opfertod zurückkehren darf, neutestamentlich gesprochen »auferstehen«. Mehr noch, er ist ein korrigierter Christus, weil es für ihn – und mittelbar für uns – nicht auf die zügige Himmelfahrt ankommt, sondern auf eine Rückkehr in die Welt des täglichen Lebens. Darum hat er nach

Weitere Kostenlose Bücher